Kinder des Judas
blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls die Gestalt zu wechseln und sich ihm in den Weg zu stellen. »Lauf, Liebster!«, befahl sie. »Du bist ihm nicht gewachsen.« Sie schlug nach Marek, aber er tauchte unter ihrem Hieb hindurch. »Ich komme nach. Warte auf meine Nachricht.«
Viktor sah sich mit aufgerissenen Augen um, doch er konnte Scylla und Marek nirgends mehr sehen. Es pfiff und rauschte in der Luft, als tobte in der Kammer ein Sturm, plötzlich traf ihn ein Windstoß und warf ihn rückwärts gegen die Tür.
Die Geräusche, das sah Scylla in seinen Augen, jagten ihm abscheuliches Grausen ein, die Furcht hatte sich um sein Herzgelegt. Endlich warf er sich herum, kroch aus dem Raum und schleuderte die Tür zu.
Scylla nahm ihre menschliche Gestalt an und stellte sich vor den Ausgang. »Du wirst ihn gehen lassen.«
»Was erreichst du damit?«, wisperte Marek. »Ich werde erst aufgeben, wenn ich die Formel habe.«
»Oder du tot bist«, fügte sie hinzu.
Er nahm den festen Körper an, stand nackt vor ihr und bückte sich dann nach seinem Dolch. »Das sicherlich nicht, Scylla.« Er lauschte, weil er von draußen das Klappern von Hufen hörte. »Er hat dir wirklich gehorcht. Ich möchte gerne sehen, wer ihn zuerst findet: du, ich oder einer von den anderen aus der Cognatio.«
Sie verharrte vor der Tür. »Du wirst bleiben, bis sein Vorsprung groß genug ist.«
»Einen solchen Vorsprung kann es nicht geben.« Er lächelte und zog seine Kleidung an, was sie als ein Zeichen der Kapitulation auffasste. Nach und nach tat sie es ihm gleich. »Du hast eine gute Gelegenheit verstreichen lassen, dir Ärger zu ersparen«, sagte er. Er ging auf den Ausgang zu, doch sie bewegte sich nicht, also blieb er stehen.
Sie verharrten.
Erst nach einer Stunde, in der sie sich unentwegt angestarrt und belauert hatten, machte Scylla zwei Schritte zur Seite und gewährte ihm den Abzug. »Bald wird es hell. Du wirst ihn heute nicht mehr einholen«, sagte sie.
»Du aber auch nicht«, erwiderte er.
»Vater kannte mehr als diese Formel, Marek. Vielleicht besitze ich Vorteile euch gegenüber, an die ihr im Traum nicht denkt.« Scylla folgte ihm die Treppe nach oben und entließ ihn in den dämmernden Morgen; mit Schwung warf sie die Tür zu und verriegelte sie mehrmals.
Ihr erster Gedanke war, die wichtigsten ihrer Bücher herauszusuchenund nach Westen zu flüchten. Doch allein dafür würde sie vermutlich drei große Kutschen und viel Zeit benötigen. Zu viel Zeit.
Die Suche nach Viktor hatte Vorrang, weil er sich niemals gegen Marek oder andere aus der Cognatio zur Wehr setzen konnte.
Wenn es ihr nicht gelang, ihn sofort einzuholen, so besaß Scylla doch eine recht genaue Vorstellung, wohin er sich vor dem Vampir flüchten würde. Die Stadt Belgrad war groß, dort konnte er untertauchen.
28. März 1732
Belgrad
Viktor eilte durch die engen Straßen, in denen es vor Menschen und Wagen wimmelte. Der Frühling sorgte für das Ende der lähmenden Starre, in die Land und Leute gefallen waren. Der Handel und die Geschäfte erwachten wieder zum Leben.
Ihn dagegen trieb eine Botschaft geradewegs zum Sitz von Marquis Botta D’Adorno. Dort warteten neue Briefe.
Da er wusste, dass mindestens der Vampir namens Marek ihm nach dem Leben trachtete, hatte er sein Aussehen verändert. In seinem Gesicht stand ein Bart, er trug eine schwarze Perücke und eine Klappe über dem rechten Auge. Den sehr mitgenommenen französischen Mantel hatte er gegen einen neuen eingetauscht, und er gab sich gegenüber den Menschen, denen er begegnete, als Franzose namens Luc Vallerois aus; offiziell reiste er als französischer Abenteurer durch die Gegend. Nicht einmal sein Vater hätte ihn erkannt.
D’Adorno machte das Spiel mit, weil ihm Viktor etwas von einem Duell erzählt hatte, dem er entgehen wollte. Es war ihm gleich, ob man ihn für einen Feigling hielt.
Viktors Wochen in Belgrad waren geprägt von ungeduldigem Warten und fieberhafter wissenschaftlicher Arbeit. Nach der Flucht vor Marek war er in Belgrad angelangt und hatte sofort bei D’Adorno die Briefe seines Professors sowie das Geld, das ihm sein Vater gesandt hatte, abgeholt.
Seit diesem Tag schrieb er von morgens bis abends, schilderte Einzelheiten jener Vampire, auf die er getroffen war oder von denen er erfahren hatte; nur die Kinder des Judas ließ er vorerst außen vor.
Dafür verschonte er den Professor nicht mit Einzelheiten. Jede Kleinigkeit über eine Vampirhinrichtung
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