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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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zum blauen Himmel hinauf, vor dem sich weiße Wolken bewegten. Im Schatten war es noch kühl, doch die Sonne besaß bereits Kraft und verhieß ein angenehmes Frühjahr. »Ich werde das Land durchstreifen, bis ich dich gefunden habe«, schwor er Scylla. »Auch wenn es mich Monate und Jahre kosten sollte.«
    Viktor senkte die Augen und betrachtete die Umgebung. Der Wald verströmte Dunkelheit, als habe er sie in der Nacht eingefangen und gäbe sie nun frei, und es fiel ihm auf, dass kein Singvogel seine Stimme erhob. Die Krähen schienen seine einzigen Bewohner zu sein.
    Viktor stand auf und kehrte zu seinem Pferd zurück. »Machen wir uns auf die Suche«, sagte er und stellte einen Stiefel in den Steigbügel.
    Das Ächzen in seinem Rücken ließ ihn innehalten und sich umdrehen.
    Die Tür zur Mühle hatte sich geöffnet und schwang langsam auf, als wollte ihn das Gebäude einladen, den Fuß hineinzusetzen.
    »Bonjour«, rief er und sprach auf Türkisch weiter. »Jemand zu Hause? Mein Pferd bräuchte Wasser.« Viktor schritt auf die Mühle zu, wieder lag seine rechte Hand am Griff der Pistole. Dass sich jemand in dem Gebäude aufhielt, bezweifelte er nicht – die Frage war:
Wer
wollte, dass er es betrat?
    Behutsam machte er einen Schritt über die Schwelle und achtete darauf, dass er im schützenden Sonnenlicht stand. Unmittelbar vor ihm war die Rampe nach unten gelassen worden, über die er damals bei seiner Flucht vor Marek auch schon gerannt war. »Ist da wer?«
    Plötzlich blieben die Windmühlenflügel stehen, das reibende Geräusch der Achse endete unvermittelt, und es wurde totenstill.
    Viktor wusste nicht, was er tun sollte. In diese offensichtliche Falle wollte er nicht laufen, aber gleichzeitig drängte es ihn, hinabzusteigen und nachzuschauen.
    Er schluckte und machte einen weiteren Schritt in die Mühle. »Hört mich jemand?«
    Aus dem Stockwerk unter ihm erklang ein gedämpftes Poltern.
    Er zuckte zusammen und zog die Pistole. Er schritt die Stiegen in das erste Untergeschoss hinunter, folgte dem Gang, den er kannte, und wählte die nächste Tür.
    Er stand in einer atemberaubend großen Bibliothek. Dicht an dicht standen die Regale, Licht spendeten lediglich zwei einsame Öllämpchen, die unterhalb der Decke angebracht waren und wie ferne Leuchttürme auf ihn wirkten.
    Viktor setzte einen Fuß vor den anderen und schwenkte diePistole hin und her. Er schwitzte kalten Schweiß, sein Herzschlag beschleunigte sich.
    Er hatte das Gefühl, nicht allein zu sein, und dennoch sah er niemanden. Schatten wurden für ihn lebendig, die tausend verschiedenen Fähigkeiten von Vampiren huschten durch seinen Verstand und steigerten die Angst, die ihn jetzt erfasste.
    Ungefähr in der Mitte des Raumes, so schätzte er zumindest, entdeckte er einen Schreibtisch, auf dem sich Papiere und aufgeschlagene Bücher stapelten; eine Öllampe beleuchtete sie.
    Viktor kam näher und warf einen langen Blick darauf. Er erkannte die lateinischen Notizen einer Frau auf einem fast vollgeschriebenen Blatt; darunter lagen etliche weitere.
    In mehreren unlesbaren handschriftlichen Aufzeichnungen, die eindeutig von einem Mann stammten, waren Markierungen zwischen den Zeilen und an den Rändern gemacht worden. Er nahm an, dass Scylla auf der Suche nach etwas war, das sich beim bloßen Lesen der Arbeiten nicht erschloss.
    Viktors Neugier brannte lichterloh, und er widmete sich den auf Latein verfassten Notizen.
    Schon nach den ersten Zeilen war er vom Inhalt gefangen: Es ging darin um Persönliches! Ein Mann namens Karol schrieb über Scylla, wenn er die Zeilen richtig verstand.
Ihr Vater?
    Die ersten Seiten beschrieben Ereignisse, die sich lange vor Scyllas Geburt abgespielt hatten. Mit den Namen und Orten vermochte Viktor nichts anzufangen – bis der Verfasser den Umzug in die Mühle erwähnte.
    Es offenbarte Viktor, wer dieser Marek wirklich war: Scyllas Halbbruder; und dass Marek eine obsessive Kreatur war, die alles unternahm, um ihre Ziele zu erreichen. Marek war durch ihn in die Cognatio berufen worden, als ihr Vater das Amt des Ischariot innehatte. Karol hatte es – diesen Zeilen nach – bald bereut, einen solchen Sohn zu haben. Sein rücksichtsloser Ehrgeiz widerstrebte ihm.
    Viktor schluckte, seine Aufregung wuchs.
Cognatio? Ischariot?
Er ahnte, dass er im Begriff war, in die tiefen Geheimnisse der Kinder des Judas vorzudringen.
    Rasch las er weiter und vergaß alles um sich herum. Er legte seine Pistole neben sich auf den

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