Kinder des Judas
Freie.
Es war draußen dunkel geworden, Viktor hatte beim Lesender Aufzeichnungen die Zeit vollkommen vergessen. Sosehr sie sich umsahen, es gab keinerlei Hinweise auf die Vampirin.
»Verflucht!« Scylla schaute sich um, blickte zum Wald und zum Weg. »Hat sie dir etwas getan?«
»Ich weiß mich inzwischen gegen sie zu wehren«, gab er grinsend zurück und wies ihr das Bändchen. »Damit habe ich sie enttarnt.« Er wollte ihr gerade gestehen, dass er ihre lateinischen Aufzeichnungen gelesen und gleichzeitig noch so viele Fragen zu den Vampiren und zu ihr selbst hatte – da hob sie gebieterisch die Hand und lauschte.
»Geh zurück in die Mühle«, sagte sie angespannt und wandte den Kopf nach rechts.
Viktor schaute ebenfalls dorthin und erkannte die Umrisse eines Mannes auf einem Pferd. Die rechte Hand hatte er in die Seite gestützt, die linke hielt die Zügel. Im schwachen Sternenlicht bekam Viktor lediglich eine ungefähre Ahnung von der herrschaftlichen Garderobe, die ebenso funkelte und glitzerte wie seine Perücke. »Ein Judaskind!«
»In die Mühle«, wiederholte Scylla und versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter, gleichzeitig schob sie sich vor ihn, um seinen Rückzug zu sichern. Sie wusste, wen sie vor sich hatte. »Baron Rubin«, sagte sie grollend. »Heute ohne Kutsche?«
Er lächelte auf sie herab, dann schaute er zu Viktor, der gar nicht daran dachte, in die Mühle zu gehen. »Die Formel des unsterblichen Lebens deines Vaters gegen dein Leben und das des Deutschen«, sprach er fordernd. »Andernfalls suchen wir sie selbst und lassen nichts von euch übrig.«
»Vom Baron zum Botenjungen«, meinte Scylla beißend. »Das nenne ich einen Abstieg.«
»Bekommen wir die Formel, werdet ihr das Land verlassen können und nach Westen gehen.« Rubin hörte sich zufrieden an, als er höhnisch hinzufügte: »Oh, aber natürlich erst nachdem wir die Formel überprüft und ihre Wirkung mit eigenenAugen gesehen haben.« Er richtete sich im Sattel auf und reckte den Kopf, sein Blick legte sich auf ihren Begleiter. »An
ihm!
Viktor von Schwarzhagen wird zuvor die Zunge herausgerissen, und die Hände werden ihm abgeschlagen. Das stellt sicher, dass er keinerlei Erkenntnisse über uns, die Kinder des Judas, weitergeben kann, wie lange er auch immer leben wird, nachdem er vom Elixier der Unsterblichkeit kosten durfte. Ihr beide werdet in unserer Obhut bleiben, bis wir sicher sind, dass die Formel die richtige ist. Es wird dir nichts ausmachen, die nächsten fünfzig Jahre an der Seite eines stummen Krüppels zu verbringen, wo du ihn doch so sehr zu lieben scheinst. Das ist der Beschluss der Cognatio. Wir erwarten dich, die Formel und den Deutschen um Mitternacht vor dem Eingang der Mühle.« Rubin wendete sein Pferd und ließ es gemächlich den Weg hinab zum Wald traben.
Viktor stand auf der Schwelle, den Arm mit der Pistole hatte er halb zum Schuss erhoben.
Scylla winkte ab. »Es würde nichts bringen, Liebster.«
»Was wollte er?«
Sie starrte dem Baron nach und überlegte bereits, wie sie der Cognatio entkommen konnten. »Zu viel, Viktor. Mehr als ich zu geben bereit bin.« Scylla kam auf ihn zu und küsste ihn lange auf den Mund, ging an ihm vorbei und zog ihn mit sich ins Innere des Gebäudes.
Sie schob ihn zu einem Stuhl und drückte ihn nieder, dann setzte sie sich ihm gegenüber und fasste seine Hände. Es war an der Zeit, dass er alles erfuhr. Über sie, über die Kinder des Judas und über das, was ihnen um Mitternacht bevorstand.
Viktor hörte ihr aufmerksam zu und wurde bleicher und bleicher. Derartiges Wissen hatte er sich letztlich doch nicht gewünscht.
4. April 1732
Habsburgisches Territorium (serbisches Gebiet)
Scylla stand in der Bibliothek und hielt das Papier in den Händen, auf dem sie vor wenigen Tagen nochmals die letzte Entschlüsselung der verborgenen Nachricht ihres Vaters aufgeschrieben hatte. Es war die Zusammenfassung von Karols Erkenntnissen: die Formel der Unsterblichkeit.
Die Cognatio wusste, dass sich die Formel in ihrem Besitz befand, aber sie rechnete nicht damit, dass Scylla zusammen mit Viktor den Kampf aufnehmen würde. Es war das erste Mal, dass ein offenes Gefecht zwischen Judaskindern stattfand.
Scylla schluckte. Ihr Vater hatte der Mutter das größte Geschenk gemacht, das man sich vorstellen konnte, und sie hatte nichts davon geahnt! Ewiges Leben. Ohne die Tat des Janitscharen wäre Scyllas Traum von einer Familie in Erfüllung gegangen.
Die vielen
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