Kinder des Judas
Schreibtisch.
Es folgten Zeilen über Scyllas Mutter und wie sehr der Mann namens Karol sie geliebt und verehrt hatte. Dieser eine Abschnitt ließ sein Herz für einen Moment das Schlagen vergessen:
Sie wird die Unsterblichkeit erlangen!
Janja hat das Serum zu sich genommen, und es wird sich erweisen, dass wir zusammen alt werden: Ich als Vampir und sie als meine Frau. Ohne den Fluch des Blutes.
Aber nicht an diesem Ort, sondern weit weg von hier, wenn ich den Moment für gekommen halte. Erst dann wird sie von ihrer Bestimmung erfahren.
Denn wir beide haben alle Zeit der Welt.
»Es wiederholt sich wie bei ihren Eltern«, murmelte Viktor, hob den Kopf und sah auf das kleiner werdende Flämmchen der Lampe. Das Öl ging zur Neige.
Nur dass sie die Vampirin ist, und ich bin der Sterbliche.
Er erinnerte sich, dass sie ihm nach der Flucht vor Carzic in der Kutsche ein Serum eingeflößt hatte. War auch er nun unsterblich?
Fast unhörbare Schritte erklangen, dann trat eine Gestalt an den Tisch heran, und Viktor sah eine ihm unbekannte Frau. Sie war eindeutig älter als Scylla, doch hübsch anzuschauen, und sie trug das Kleid einer Adligen, auf dem Kopf saß eine sehr auffällige Perücke. Sie schleppte einen Stapel schwerer Bücher.
Er war so überrascht von ihrem Auftauchen, dass er nicht einmal nach seiner Waffe gegriffen hatte.
Sie verharrte ebenfalls und musterte ihn. »Schau einer an. Da steckt unter der Maskerade tatsächlich Viktor von Schwarzhagen, den so viele suchen«, meinte sie leise, und er zuckte zusammen. »Keine Angst, von mir geht keine Gefahr aus.«
»Sind Sie… Baronin Metunova?«, riet er.
Jetzt hatte er sie überrumpelt. »Wer hat dir das erzählt?«
»Marek – wenn auch nicht absichtlich«, gestand er. »Wissen Sie, wo Scylla ist?«
»Auf der Suche nach dir«, gab sie zurück und stellte die Bücher ab. »Ich passe solange auf die Mühle auf.«
Viktor streifte die Augenklappe ab und hängte die Perücke an die Stuhllehne. Die Verkleidung war sinnlos geworden. »Ist es Ihnen recht, wenn ich auf sie warte?«
»Es macht vieles einfacher«, gab die Baronin vieldeutig zurück. »Wie ist es dir inzwischen ergangen?« Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck und lachte. »Vertrau mir. Scylla und ich haben keine Geheimnisse voreinander.« Lydia sah auf den Papierstapel. »Aha, du hast dir die Freiheit genommen, einen Blick darauf zu werfen. Du verstehst, was sie geschrieben hat? Steht etwas darin, was du noch nicht weißt? Über Vampire?«, fragte sie stichelnd. »Oder über die Kinder des Judas?«
»Oh, ich denke, dass ich schon einiges über die Kinder des Judas herausgefunden hatte, bevor ich Scyllas Schriften zu lesen bekam«, gab er zurück. Er fühlte sich von ihrem gönnerhaften Ton herausgefordert.
»Sicher«, lachte sie abschätzig.
Er freute sich auf ihr überraschtes Gesicht und grinste. »Soll ich es Ihnen zeigen?«
Lydia bedachte ihn weiterhin mit einem herablassenden Lächeln. »Dazu haben wir unsere Geheimnisse zu gut verborgen, Viktor.«
Viktor sprang auf und nahm die Karte aus der Tasche, die er angefertigt hatte. »Dann sehen Sie gut her und staunen Sie.«
Mit heller Begeisterung erklärte er ihr, was er vermutete: Welche Regionen die Gesellschaft ihr Eigen nannte, wer seiner Ansicht nach sicher dazugehörte und bei welchen Adligen er es nur vermutete. »Ihr habt euch überallhin ausgebreitet, nicht wahr? Serbien, Rumänien, Bulgarien, eure Einflussbereiche sind riesig.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Seinen Stolz über das, was er herausgefunden hatte, durfte man ihm ruhig ansehen. »Wie steht es
nun
mit Ihren Geheimnissen, Baronin? Was wohl die Gelehrten der westlichen Welt sagen würden, wenn sie von diesen finsteren Königreichen erführen?«
Lydia sah auf die Zeichnung, in ihrem Gesicht stand – Zufriedenheit? Sie deutete stumm Applaus an. »Ganz ausgezeichnet, Viktor.«
Er deutete eine Verbeugung an, und sein Zingaro-Anhänger rutschte nach vorne aus dem Hemdsärmel.
Mit einem Schrei fuhr die Baronin vor ihm zurück.
Viktor stutzte einen Lidschlag lang, bevor ihm das leise Klingeln der Amulette in die Ohren drang und er verstand. Auf der Stelle langte er nach der Pistole und hob die doppelläufige Waffe. Die Mündungen zielten auf den Kopf der Frau, gleichzeitig zog er seinen Dolch.
»Wer bist du?«
XXI.
Kapitel
4. April 1732
Habsburgisches Territorium (serbisches Gebiet)
S ie starrte das Kreuz vor seiner Brust
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