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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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mir als Nächstes anschauen.«
    »Nein, Tochter, eines nach dem anderen. Wir fangen hier an und arbeiten uns jeden Tag ein Glas weiter vor. Von den Fingern bis zum ganzen Körper. Außerdem dürfen wir das Studium der Sprachen nicht vergessen. Die meisten Bücher der Gelehrten wurden in Latein verfasst.« Karol stand auf, schob sie zum Ausgang und löschte die Lampe. Die Präparate fielen zurück in die Dunkelheit. Er streichelte ihr über die Haare. »Du bist sehr tapfer, Tochter.«
    Jitka fühlte nach wie vor Unwohlsein, zugleich aber einen enormen Wissensdurst, der die Abscheu immer weiter zurückdrängte. Als sie die Treppen nach oben erklomm, war siedennoch erleichtert, dem makabren Raum für heute entkommen zu sein.
    Morgen werde ich es besser machen,
nahm sie sich vor.
Morgen werde ich keine Angst mehr haben.
    Doch noch etwas anderes beschäftige sie. »Woher hast du die vielen Leichen?«
    »Wir nennen sie Präparate, Tochter«, verbesserte Karol sie. »Friedhöfe sind schon seit langer Zeit eine ergiebige Quelle für die Wissenschaft, aber das sollte nach Möglichkeit niemand bemerken. Die Menschen sind abergläubisch, Tochter, sie verstehen nicht, warum man manche Dinge einfach tun muss. Darum lebe ich so zurückgezogen. Niemand stört mich hier draußen.«
    »Ja, Vater.« Jitka nickte und fasste seine Hand. »Aber hast du den Menschen auch schon mit deinem Wissen geholfen?«
    »Natürlich. Denjenigen, die nicht mehr auf Zauberei und Bannsprüche vertrauen, wenn sie sich eine Blutvergiftung zugezogen oder einen Finger gebrochen haben. Ich helfe denen, die nicht glauben, dass Kröten dazu geeignet sind, Warzen zu entfernen.« Er machte eine verächtliche Geste. »Es ist unglaublich, was die Einfältigen tun, um gegen eine Krankheit vorzugehen.«
    Jitka lachte, und er stimmte ein. »Das nächste Mal«, sagte sie entschlossen und stieg in die Küche hinauf, »möchte ich dabei sein.«
    »Dabei sein bei
was?
« Karol berührte seitlich in der Wand einen Stein, und die Rampe fuhr nach oben. Als sie sich geschlossen hatte, gab es keinen Hinweis darauf, was sich unter ihren Füßen verbarg.
    »Wenn du in den Wald gehst und forschst.« Jitka trat an den Herd und stellte den Wasserkessel auf die rotglühende Herdplatte, um sich einen Kräutertee zuzubereiten.
    Karols Lippen wurden schmal. »Wir werden sehen, Tochter.Erst möchte ich, dass du das theoretische Wissen beherrschst. Bei deiner Geschwindigkeit wird es nicht lange dauern.«
    Jitka verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde mich noch mehr anstrengen.«
    Während der Tee in einer Kanne zog, dachte sie schweigend nach. Es gab etwas, was ihr schon seit einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging. »Vater, ich finde, mein Name passt nicht zu mir. Nicht mehr. So viel hat sich verändert! Ich … ich möchte eine Forscherin werden wie du. Und ich will …« Sie schluckte schwer.
    »Rache nehmen«, vollendete Karol ihren Satz. Er sah seine Tochter ernst an. »Bist du sicher, dass du schon weißt, was das bedeutet?«
    Jitka betrachtete das zuckende Flämmchen der Kerze. Sie dachte an die Mutter, die man ihr entrissen hatte. Die unschuldig zu Tode gekommen war. Ein Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf – der Janitschar. Sein überheblicher, grausamer Gesichtsausdruck. »Ja, Vater.« Das Bild veränderte sich. Für einen kurzen Moment sah sie den Kopf ihres Feindes mit blinden Augen und einem entsetzt aufgerissenen Mund sauber vom Körper getrennt in einem großen Glas schwimmen. Der Anblick erfüllte sie mit Grauen – und einer tiefen, brennenden Befriedigung.
    »Scylla«, flüsterte sie
    »Scylla«, wiederholte Karol nachdenklich und verfolgte die feine Spur des heißen Dunstes, der sich aus der Teekanne erhob und sich auf seinem Weg zur Decke immer mehr verlor. Das alles konnte kein Zufall sein. Selten hatte ein Name so gut getroffen, was mit seiner Trägerin geschehen würde. »Von nun an soll dies dein Name sein, Tochter.«
    Sie lächelte, goss sich eine Tasse Tee ein und ging, die Tasse vorsichtig in Händen haltend, auf die Treppe zu, um in die Bibliothek zu gelangen. Dabei stimmte sie die ersten Töne eines Liedes an, das ihr die Mutter beigebracht hatte.
    Die Melodie umschmeichelte nicht nur Karols Ohren, sondern berührte ihn auch tief im Herzen. Er sah seiner Tochter bewundernd hinterher. »Ich werde dir helfen, zur Größten zu werden«, flüsterte er.
    Zur Größten unter den Lebenden – und den Toten.

IV.
Kapitel
    6. Dezember

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