Kinder des Judas
beispielsweise weiß, wie ein Knochen aufgebaut ist und was ihn zusammenhält, kann ich einen Bruch besser heilen.«
Jitka stimmte seinen Worten zu, dennoch fand sie die Vorstellung schrecklich. Sie sah vor ihrem inneren Auge die geschlachteten Schweine auf Lubomirs Gehöft an langen Haken von der Decke baumeln – und stellte sich vor, wie ihr Vater auf die gleiche Art Menschen zerteilte! Sie schaute zu ihm auf. Der Lampenschein gab ihm dieses Dämonische, vor dem sie sich plötzlich fürchtete. Sie wurde bleich. »Ich weiß nicht …«, presste sie mühsam heraus.
Karol sah doch sicher, dass sie sich nicht gut fühlte, dennoch beschloss er, sie mitleidlos zu Ende zu prüfen. »Du musst es durchstehen. An diesem Punkt des Weges aufzuhören ergibt keinen Sinn.« Er stand auf. »Jetzt zeige ich dir die unterste Ebene.«
Als er seine Hand ausstreckte, zögerte sie.
»Was soll das? Eine Forscherin hat keine Furcht.«
Jitka sah zur Treppe, hörte das Knarren der Mühlenachse. »Was ist da unten, Vater?«
»Nichts, was in der Lage ist, dir etwas zu tun. Es ist meine Sammlung. Die besten Exponate und Fundstücke, die mir und meinem Vater seit Beginn der Forschung begegneten.« Karol ging auf die Treppe zu. »Zeig mir, wie mutig du bist.« Er bemerkte, dass sie zögerte. Ohne sich umzudrehen, fügte er hinzu: »Beweise mir, dass du wirklich meine Tochter bist!« Stufe um Stufe verschwand er in der Dunkelheit.
Jitka atmete tief durch.
Dann folgte sie ihm, auch wenn ihr jeder Schritt schwerfiel.Der modrige Geruch, den das Mädchen schon beim Betreten der ersten Höhle bemerkt hatte, nahm zu. Hier, auf der untersten Ebene, stank es aufdringlich nach Spiritus. Die Dämpfe reizten die Lungen, und sie hustete.
Karol entfachte eine Lampe, die an der Wand neben der Tür hing, und schloss sie auf. »Was du nun siehst, darf dir keine Angst machen, Tochter«, schärfte er ihr ein. Nichts in seiner Stimme erinnerte an den liebenswürdigen Mann, der er normalerweise war. Er klang wie ein unerbittlicher Lehrer, der kein Mitleid mit schwachen Schülern besaß und sie jederzeit züchtigen würde. »Sieh es mit den neugierigen Augen einer Gelehrten, sieh die Schönheit und die Besonderheit darin und ekele dich nicht. Nur auf diese Weise wird es dir später gelingen, eigene Erfolge zu erzielen.«
Er öffnete den Eingang und hob die Lampe. Ihr Schein fiel auf ein System aus Spiegeln, welche die Helligkeit weitergaben und den Raum dahinter in mattes Licht tauchten. Ein geordneter Wald aus Regalen streckte sich über viele, viele Meter, und darin standen Gläser, gläserne Wannen und andere Behältnisse. Darin schwammen …
Jitka starrte auf das makabre, säuberlich geordnete Sammelsurium aus Körperteilen. Fingerknochen, Hände, Arme, Oberkörper, ganze Schädel, aufgeschnitten, von der Haut befreit. Blanke Knochen, offene Sehnen und Muskeln, grinsende Totenschädel, Augen, die wie an langen Schnüren in der Flüssigkeit schwammen.
Etwas in Jitka, vielleicht das kleine Mädchen, das sie immer noch war, wollte aufschreien vor Grauen. Doch ein anderer und wesentlich stärkerer Teil von ihr befahl, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich die Gliedmaßen aus der Nähe zu betrachten. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schritt in den Raum hinein.
Karol hatte bislang nichts gesagt. »Ich war mir sicher, dass dumeine Neugier, meinen Trieb nach Wissen in dir trägst«, flüsterte er jetzt.
Er folgte ihr, und als sie vor einem kleineren Einmachglas mit einer abgetrennten, gehäuteten Hand stehen blieb und sie mit großen Augen betrachtete, nahm er es aus dem Regal und ging neben ihr in die Knie. »So sehen alle Menschen unter der Haut aus. Der Körper ist eine wunderbare Konstruktion, Tochter.« Karol nahm ihre Hand, hielt sie neben das Glas, deutete abwechselnd auf sie, dann auf das in Spiritus schwimmende Präparat. Seine behutsamen Erklärungen über die Funktionsweise der Hand begannen.
Sie hörte zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Gelegentlich bewegte sie die Finger, betrachtete das Spiel der Sehnen und Muskeln, die Augen schauten vergleichend auf die abgetrennte Hand, und ihre Augenbrauen zogen sich vor Konzentration zusammen.
Schließlich räusperte sie sich und sagte: »Ich habe es verstanden … glaube ich.« Sie nahm ihm das Glas ab und stellte es zurück ins Regal. Dann zögerte sie einen Moment.
Jitka deutete den Gang entlang auf große Bottiche, in denen ganze Körper trieben. »Diese da möchte ich
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