Kinder des Judas
Rinnen. In manchen schwappten Flüssigkeiten, andere waren von Rissen überzogen, dick mit Ruß belegt oder silbern und golden ausgekleidet. Sie standen auf Untersetzern oder in Halterungen mit Kerzen darunter, wieder andere wurden unentwegt von einer Vorrichtung in Schwingung versetzt.
Karol erklärte ihr ausführlich und selbstvergessen, welche Substanzen sich worin befanden und was er damit machte. Jitka schwirrte bald der Kopf, und sie war immer dankbar, wenn sie etwas aufschnappte. »Die Kraft des Windes treibt alles an, was ich für meine Untersuchungen benötige. Mein Vater hat die mechanischen Teile so angebracht, dass sie die Arbeit an seiner Stelle verrichten können.« Er deutete an die Decke, ander ölglänzende, fingerdicke Gestänge in streng geordneten Bahnen entlangliefen und durch Knickscharniere umgeleitet wurden, damit sie bis in die hintersten Winkel der Räume gelangten.
Er winkte sie zu einem Tisch, auf dem fünf Gegenstände standen, die Jitka an Fernrohre erinnerten, nur dass sie nach unten gerichtet waren. »Klettere auf den Schemel und sieh oben hinein«, sagte er und stellte eine Lampe darunter.
Sie tat es, kniff das linke Auge zu und spähte hinab. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was sie sah. »Das ist der Kopf einer riesige Fliege!«, rief sie und schaute an dem Rohr vorbei unter die Apparatur. Aber das Insekt hatte eine ganz normale Größe. »Ist das ein … wie heißt es noch mal … Mikroskop?«
»Richtig, das ist ein Mikroskop, Tochter.« Karol strich darüber. »Und es ist sogar etwas ganz Besonderes. Galileo Galilei hat es entwickelt. Er hat es
Occhiolino
genannt und sechzehnhundertzwölf dem polnischen König Sigismund dem Dritten geschenkt, der es mir gab.«
»Dir?« Verblüfft sah sie auf.
»Ich meine, meinem Vater«, verbesserte sich Karol. »Für seine Verdienste als Forscher.« Er zeigte mit einer Pinzette auf die Sammlung. »Damit kann man …«
»… die verborgensten Dinge sehen«, ergänzte sie.
»Sehr genau. Eine segensreiche Erfindung für uns Entdecker und Gelehrte.«
Jitka erkundete die Möglichkeiten des Mikroskops und probierte auf Geheiß ihres Vaters auch die anderen aus. Sie ließen sich ausziehen und drehen, wobei sich die Vergrößerungsstärken und die Schärfe entsprechend änderten. »Das ist unglaublich«, juchzte sie.
»Es gibt keinen Zweifel, dass du mein Fleisch und Blut bist«, meinte Karol schmunzelnd. »Ich bin gespannt, wie du auf dienächsten beiden Stockwerke reagierst. Und ich hoffe, dass du nicht gleich in Ohnmacht fällst.«
Sie stießen weiter nach unten vor. Es gab hier ebenso wie in der ersten Etage schwere Steintische, die mit Ablaufrinnen und Ösen versehen waren, das Mädchen entdeckte Messer und andere Instrumente, wie es sie beim Bader gesehen hatte. Offenbar kurierte ihr Vater Menschen von ihrem Leid; dafür waren hier weniger von den Glaskolben und -röhrchen zu sehen.
»Hier seziere ich, Tochter«, erläuterte er ernst.
»Du machst
was?
«
»Ich zerschneide Lebewesen, um zu sehen, wie sie von innen aussehen. Wie ihre Muskeln, Sehnen und Nerven liegen, damit ich verstehe, wie ihre Körper funktionieren.« Karol beobachtete sie ganz genau. »Verstehst du, was ich sage?«
Jitka kamen sofort die kleinen Kammern mit den Riegeln in den Sinn. Das waren keine Vorratsräume – das waren Käfige! Sie schauderte, berührte scheu den Steintisch, vor dem sie standen, und starrte auf den Ausguss, unter dem sich ein Eimer befand. Er diente offensichtlich dazu, das Blut aufzufangen. »Ich verstehe«, gab sie leise zurück. »Aber warum muss man sie dazu zerschneiden?«
»Weil es nicht ausreicht, nur von außen zu schauen. Es wäre, als wenn man ein Buch nicht aufklappt, obwohl man wissen möchte, was darin steht.« Karol ließ sich auf einem Schemel nieder. »Lebewesen sind wie Bücher: Sie alle bestehen aus der gleichen Materie, sie haben Seiten aus Papier, auf die Buchstaben gedruckt oder geschrieben sind, und doch können diese Buchstaben etwas anderes bedeuten. Lebewesen haben Muskeln, Fleisch, Organe, und dennoch sind sie oft verschieden. Insekten tragen ihr Skelett außen, Tiere und Menschen in ihrem Inneren.«
Ihr Vater bekam dieses Glitzern in die Augen.
»Was hast du schon alles … seziert, Vater?«
»Alles, Tochter. Wirklich
alles
.« Er berührte sie an den Schultern. »Du musst keine Angst haben. Es dient allein der Wissenschaft und dem Wohle der Menschen. Ich forsche, damit ich helfen kann. Wenn ich
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