Kinder des Judas
2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 17.01 Uhr
I ch schaue auf die Uhr. Auch sie ist ein Metronom des Lebens, dem sich niemand widersetzen kann. Manche versuchen, die Zeit durch Ignoranz oder Schönheitsoperationen aufzuhalten. Doch dies kann nie von Dauer sein. Es gibt nur sehr wenige, für die das Metronom langsamer schlägt. Einige von ihnen werden in meiner Geschichte vorkommen.
Nackt steige ich aus dem Bett. Der große Wandspiegel zeigt mir, dass die Wunden vom Kampf sehr gut verheilen, es wird wieder keine Narben geben. Meine Rippen schmerzen noch ein wenig. Früher hätte mir der Tritt nichts ausgemacht. Oder wenigstens hätte ich mich viel schneller davon erholt. Aber jetzt … Ich bin nicht mehr die Jüngste, das sagt mir mein Körper jeden Tag mit einer gewissen Häme. Es ist ihm ziemlich egal, dass er dabei über sich selbst lacht und seinen eigenen Verfall bejubelt.
Ich schlüpfe in die dunkelrote Seidenunterwäsche. Es gibt wenige Gefühle, die sich damit messen können, echte Seide auf der Haut zu spüren, einmal abgesehen von einer zärtlichen Hand, die weiß, was sie tut.
In der Küche brodelt meine sündhaft teure Kaffeemaschine, ein Gerät, das alles Mögliche kann. Sie ist so programmiert, dass sie sich selbst einschaltet, reinigt und mit Wasser versorgt. Weil ich es hasse, mich darum kümmern zu müssen. Ich erinnere mich nur ungern daran, dass es Zeiten gab, in denen ich sogar die Kaffeebohnen selbst mahlen musste. Schrecklich.
Hätte ich mir jemals träumen lassen, dass ich einmal so etwas wie einen Mittagsschlaf brauchen würde? Aber auch heute erwartet mich wieder eine lange Nacht, auch wenn sie dieses Mal nicht in einer Schlägerei mit Neonröhren, Tackern und anderen Hilfsmitteln enden wird. Ich habe auch noch andere Jobs, die gutes Geld bringen. Diese Webcam-Fights bringen dagegen
sehr gutes
Geld und eben die Portion Lebendigkeit in mein Leben, die mir sonst nichts anderes verschaffen kann. Nicht einmal die stärkste Droge der Welt.
Trotzdem wäre es nicht die schlechteste Idee, selbst einen
Fight Club
ins Leben zu rufen, damit ich der Freakshow und den Webcams entkommen kann.
Ich werfe mir zusätzlich einen Morgenmantel über, nehme meinen Kaffee und schalte den Fernseher ein; im Vorbeigehen drücke ich auf die Wiedergabe-Taste des Anrufbeantworters.
Tanja hat sich bis zur nächsten Löschung auf meinem Band verewigt. »Hallo, Hel. Wir haben in einer Woche einen neuen Kampf, dieses Mal gegen … Miss Thunderpussy.« Sie muss lachen, und auch ich grinse. Warum können sich die Kämpfer nicht Namen aussuchen, die nicht nach einer schlechten Karikatur klingen? »Monsoon liegt im Krankenhaus. Er hat diverse Brüche und innere Verletzungen, aber er wird wieder. Müller ist sehr zufrieden mit dem letzten Kampf, soll ich dir ausrichten. Er hat uns eine Prämie in Höhe von zehntausend überwiesen. Star TV bringt den Bericht nächste Woche. Nimmst du es auf?« Sie macht eine kleine Pause, als erwartete sie eine Antwort von der Maschine. »Alles andere schicke ich dir wie üblich als verschlüsselte E-Mail. Schöne Woche bis dahin – und trainier fleißig. Ciao.«
Wie immer verziehe ich das Gesicht, wenn ich das italienische Wort höre.
Ciao
schickt sich in meinen Ohren für einen Italiener, der die richtige Aussprache beherrscht und aus dessenMund es authentisch klingt. Bei den meisten Deutschen dagegen hat es etwas furchtbar Gekünsteltes, etwas verzweifelt Cooles, ein bisschen Möchtegern-Südeuropa. Leider auch bei Tanja.
Ansonsten hat man mir meine Ruhe gelassen, keine weiteren Mitteilungen. Die Fernsehnachrichten von heute sind belanglos, ich wechsle in den Regionalkanal und bin auch von diesen Neuigkeiten beruhigt. Es gibt nichts, was mich belasten muss.
Nach dem Kaffee und einer Scheibe Toastbrot mit etwas Butter ziehe ich mich an. Die Seide verschwindet unter der langen schwarzen Hose einer exklusiven Modemarke, deren Preise nicht unter dreihundert Euro beginnen. Zu Recht. Ich habe in meinem Leben keine besseren Hosen als diese getragen. Für meinen hellbraunen Vikunja-Pullover, der sich an mich schmiegt, kaufen sich andere Menschen ein halbes Jahr lang ihr Essen, doch ich brauche das sinnliche Gefühl auf der geschundenen Haut. Es war nicht leicht, ihn aufzutreiben, denn ein südamerikanisches Vikunja-Kamel bringt bei einer Schur gerade einmal zweihundert Gramm Wolle auf die Waage. Die Exportmenge ist streng limitiert.
Halbhohe Designerschuhe wärmen mir die Füße. Mein
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