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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Die herausgebrochenen spitzen Zähne der Upirina färbten sich gelb, auch die Präparate zeigten trotz der Konservierung deutliche Spuren des Zerfalls. Einen handwerklichen Fehler ihrerseits schloss sie aus. War es möglich, dass die übernatürliche Kraft, die aus Toten Upire machen konnte, auch nach deren Vernichtung noch weiterwirkte und sich nun gegen das ehemalige Werkzeug wendete?
    Scylla hatte außerdem noch keine befriedigende Theorie entwickelt,
was
diese übernatürliche Kraft sein könnte. Für ihren Vater schien es festzustehen: Der gottesfürchtige Mann war sicher, dass die Upire vom Teufel geschaffen wurden. Dies deckte sich mit dem Glauben vieler Menschen, von dem sie in dem Büchlein des türkischen Statthalters gelesen hatte – dass nämlichder Sheitan, ein Dämon, in die Leichen einfuhr und die Toten wieder lebendig machte. Doch das alles empfand Scylla als zu wenig wissenschaftlich. Warum sollte ein Upir dann endgültig sterben, bloß weil man ihm den Kopf abschlug? Oder war das der Sitz des Bösen?
    Neue Untersuchungen waren notwendig. Den nächsten Upir wollte sie lebend fangen. Scylla ließ ihren Blick über die Einbände der Bücher schweifen und sah zur Decke hinauf. Es wäre zu schön, einen solchen Dämon beobachten und untersuchen zu können, bevor man seinen Körper auseinanderschnitt …
    Sie rief sich zur Ordnung. Da der Glaube an etwas Übersinnliches bislang keinen Erfolg erbracht hatte, suchte sie nun wie besessen nach wissenschaftlichen Erklärungen für die Ungerinnbarkeit des Upiriblutes.
    Grübelnd wählte sie die Schriften Marcello Malpighis, der etwas über systematische mikroskopische Untersuchungen der Leber, Milz, Lunge, der Großhirnrinde, der Niere, der Lymphknoten und etlicher anderer Organe geschrieben hatte; doch auch in diesen faszinierenden Analysen suchte sie vergebens nach aufschlussreichen Bemerkungen über Blut.
    Gezielt nahm sie sich daraufhin Antoni van Leeuwenhoeks neue Aufzeichnungen vor und entdeckte endlich etwas. Er hatte der Royal Society in London über seine weitgefächerten mikroskopischen Beobachtungen berichtet. Karol kannte ein Mitglied der Society, das ihn laufend mit den neuesten Erkenntnissen versorgte. Sie überflog die Abschriften. Leeuwenhoek sprach von kleinen roten Plättchen im Blut, über deren Funktion er rätselte. Die Bemerkung des Mitglieds der Royal Society am Rand des Blattes fand sie respektlos:
»Absolute nonsense!«
Scylla dachte ganz anders.
    Sie musste sich zusammenreißen, um nicht abzuschweifen, und suchte weiter nach Details über Blutgerinnung. Als sienichts fand, zwang sie ihre Gedanken in die umgekehrte Richtung: das Nichtgerinnen.
    »Blutegel«, murmelte sie und legte den Kopf in den Nacken, um zum Fenster zu schauen. Durch ihre Studiererei hatte sie nicht bemerkt, dass es bereits Abend geworden war. »Natürlich!« Scylla ärgerte sich, dass sie auf das Offensichtliche nicht viel früher gekommen war: Die Wunden, die Blutegel bissen, schlossen sich ebenfalls nicht sofort und blieben, solange der Egel an der Haut haftete, offen. Sonderten sie etwas ab, was das Blut verdünnte? Trugen Upire etwas Ähnliches in sich?
    Scylla strahlte. Sie war einem großen Geheimnis auf der Spur und freute sich, neue Untersuchungen machen zu können. Sie würde Egel sezieren und deren Speichel genauestens unter dem Mikroskop betrachten, ihn mit dem Speichel oder zumindest dem Zahnbelag der Upirina vergleichen. Und mit ein bisschen Glück würde es in absehbarer Zeit einen neuen Wiedergänger geben, dem sie frisches Material entnehmen konnte.
    Sie erhob sich und räumte die Bücher eines nach dem anderen zurück in die Regale. Besonders in einer Bibliothek musste Ordnung herrschen, sonst verloren sie und ihr Vater alsbald den Überblick.
    Ein mannsgroßer Schatten glitt am Ende der Regalgasse vorbei.
    »Vater?« Scylla wandte freudig den Kopf. »Vater, ich habe dir etwas zu sagen.« Sie schritt mit einem Folianten in der Hand die Reihe ab und sah durch den schmalen Spalt über den einsortierten Büchern hinweg die schwarzen Umrisse eines Menschen, der sich auf gleicher Höhe mit ihr bewegte. »Ich habe mir Gedanken über die Upirina gemacht.«
    Die Silhouette gab keinen Laut von sich und behielt die gleiche Geschwindigkeit bei.
    Scylla zog die Brauen zusammen. Das kam ihr merkwürdig vor. Die Holzdielen hätten leise knarren müssen, wie sie es gewöhnlichtaten, wenn man darauftrat, doch sie quietschten nur auf ihrer Seite. Nicht auf der des

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