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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Vaters.
    Scylla blieb stehen, legte eine Hand auf den Rücken und packte den Dolchgriff, während sie langsam weiterging. In vier Schritten Entfernung endete das Regal, und sie würden sich gegenüberstehen. Scylla spürte keine Angst, sie wusste mit der Klinge umzugehen.
Wahrscheinlich ist es sowieso wieder nur ein Trick von Vater, um mich zu necken oder zu prüfen.
    Als sie noch einen halben Schritt vom Ende des Regals entfernt war, machte sie einen großen Sprung und lachte laut, um zu zeigen, dass sie sich nicht überraschen ließ. Vor ihr stand –
    – Schwärze.
    Das Wesen, dem sich Scylla gegenübersah, wirkte wie ein Mann, der mit dunkler Farbe übergossen worden war. Nicht einmal die Augen waren ausgelassen worden.
    »Wer bist du?«, entfuhr es ihr.
    Mit einem lauten Grollen machte die Gestalt einen Schritt auf Scylla zu. Langsam hoben sich die dunklen Arme. An den Händen reflektierten schwarze Krallen das Licht.
    Scylla wich zurück und schlug geistesgegenwärtig mit dem Buch zu, um den ersten Angriff abzuwehren. Gleichzeitig schoss ihre Hand mit dem Messer nach vorne.
    Die Klinge traf ein butterweiches Ziel, und als Scylla sie herauszog, rann rotes Blut auf die Dielen.
    Dies lenkte sie einen Moment ab – und sie bekam einen Schlag gegen die Körpermitte, der sie von den Dielen hob und gegen das hintere Regal schleuderte. Atlanten, Nachschlagewerke und andere dicke, schwere Bücher regneten auf sie herab. Ein Treffer am Kopf ließ ihre Sicht verschwimmen und zwang sie in die Knie.
    Der schwarze Umriss ließ sich wie ein Tier an einem Teich auf alle viere nieder und leckte das verlorene Blut vom Boden.Dann stieß es einen röhrenden Schrei aus, sprang zum Fenster und schwang sich auf das Sims.
    Scylla kämpfte sich wieder auf die Beine, doch als sie nach dem Schatten sehen wollte, war er verschwunden. Ächzend humpelte sie zu der Stelle, an der sie das Blut des Angreifers gesehen hatte.
    Es war verschwunden.
    Ein Upir! Wie hat Vater diese Art noch genannt … Umbra.
Scylla hob die Klinge hoch, an der zäh wie Siegelwachs das tiefrote Blut des Wesens haftete. Sofort waren der Schreck und jeder Schmerz vergessen. Damit gab es noch mehr zu examinieren, sobald sie die Unordnung aufgeräumt hatte.
    Während sie ein Werk nach dem anderen zurücksortierte, fragte Scylla sich, warum der Umbra sie nicht mehr angegriffen hatte – und was ein so mächtiger Upir überhaupt in der Mühle gewollt haben konnte …
     
    15. Mai 1675
Osmanisches Tributland
     
    Scylla schreckte aus dem Schlaf.
    Mondschein fiel durch das Fenster und malte ein helles Rechteck auf den Steinboden der Mühle. Ein Blick auf den Chronographen an der Wand zeigte ihr, dass es bereits ein Uhr morgens war.
    »Viel zu spät«, murmelte sie, sprang aus dem Bett und nahm ihren Überwurf vom Haken. Karol und sie hatten den ganzen Tag gemeinsam im Wald verbracht, um Kräuter zu suchen. Sie packte ihr Messer und machte es am Gürtel fest, bevor sie die Leiter erklomm, die zur Plattform führte.
    Beinahe hätte sie ihren Kometen versäumt, der sich bereits in der gestrigen Nacht als leichtes Glitzern am Himmel angekündigthatte. Wenn man wusste, worauf man achten musste, war das Aufspüren eines Kometen auch in der verwirrenden Vielfalt des nächtlichen Firmaments ein Kinderspiel.
    Sie schob die Klappe über dem Ausstieg zur Seite und trat hinaus in die Nacht. Der Hauch von frischem, feuchtem Gras und Blumen lag in der Luft. Es waren schöne, angenehme Gerüche. Sie bedeuteten eine willkommene Abwechslung zu den mitunter ätzenden, Haut und Lunge reizenden Dämpfen in den Laboratorien, die sie scherzhaft auch Hexenküche nannte. Obwohl das, was sie dort anrührte, natürlich streng auf den Grundlagen der Wissenschaft basierte.
    Scylla schob das Fernrohr in die richtige Position und suchte den Himmel links neben dem Sternbild des Großen Wagens nach dem Wandelstern ab.
    Ein Schatten huschte vor der Linse entlang, und sie fuhr mit einem unterdrückten Schrei zurück. Scylla zückte das Messer und sah – eine Eule, die sich durch die Nacht schwang.
    Scylla atmete auf. Sie hatte ein erneutes Zusammentreffen mit dem Umbra befürchtet, der vielleicht noch immer umherstreifte.
    Als sie Karol vom Angriff des Upirs berichtet hatte, war er zu ihrer großen Überraschung sehr ruhig geblieben. Zunächst hatte er sich zwar besorgt erkundigt, ob ihr etwas zugestoßen sei, doch da dem nicht so war, schien ihn die Angelegenheit nicht weiter zu interessieren:

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