Kinder des Judas
kunstvoll erstarrte Blutstropfen erinnerten. Die Ornamente und Steine boten einen Anblick, von dem sich Scylla nicht losreißen konnte. Je länger sie darauf schaute, desto mehr bekam sie den Eindruck, dass die Linien in Bewegung gerieten und sich der Gehrock genussvoll um seinen Träger wand wie eine zufriedene Schlange.
Doch ganz gleich, welchen Stil die Männer und Frauen bei ihrer Kleidung bevorzugten: sie alle trugen besonders auffällige, kostspielige Perücken. Manche hatten die weißen Locken mit Golddrähten zu kunstvollen Gebilden aufgetürmt, andere ganze Strähnen durch Silber ersetzen lassen. Und überall glänzten Glas- und Edelsteine, Broschen – es gab keine Beschränkung. Bei allem Prunk wirkte aber keine der Perücken albern, sondern verstand es stets, die hoheitsvolle Wirkung ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin zu betonen.
Auf der Tafel ausgebreitet lagen aufgeschlagene Bücher, Handschriften und Pergamente. Die Versammlung diskutierte lautstark untereinander. Gelegentlich nahm eine Frau oder ein Mann ein Schriftstück in die Hand, überflog das Geschriebene und widmete sich erneut dem Disput.
Scylla verstand Bruchstücke der Unterredungen, und es genügte, um zu erkennen, dass es sich um Gespräche über Forschungen handelte, vielerlei Erkenntnisse über besondere Mixturen und die speziellen Mischungsverhältnisse von Tinkturen.
Sie wusste, dass sie hier Zeugin einer Versammlung von Gelehrten wurde, gewiss ein Zirkel von Gleichgesinnten, die dasselbeZiel verfolgten. Das erklärte auch, warum ihr Vater sie nicht dazugeholt hatte: Sie war noch zu jung und ungebildet.
Noch
.
»Verehrte Cognatio!« Der Mann am Kopfende der Tafel, der einen Überwurf aus weißer Seide über seiner Kleidung trug, erhob sich. »Die Zeit ist bereits vorangeschritten, und einige von uns haben noch einen weiten Weg vor sich. Deshalb sollten wir zu einem Ende gelangen.« Es dauerte eine Weile, bis die Gespräche verstummten. »Die Forschungsergebnisse, die uns heute Abend vorgetragen wurden, machen Mut … jedoch, verehrte Cognatio, mehr auch nicht. Es ist uns nach wie vor kein Durchbruch gelungen, obwohl Baron Carzic«, er neigte den Kopf in Richtung eines Mannes in einem langen braunen Gehrock, auf dem grüne und goldene Stickereien zu sehen waren, »einige bemerkenswerte Entdeckungen gemacht hat.«
»Wie wir alle, Ischariot«, warf eine Frau in einem rotweißen Kleid leise ein. Etwa die Hälfte der Versammlung lachte. Scylla musterte sie aufmerksam und fand sie ebenso anziehend wie ehrfurchteinflößend. Sie mochte vierzig Jahre alt sein, eine bildschöne Frau mit einer verschwenderischen Robe. Um ihre Lippen spielte ein spöttisches Lächeln, das Grübchen in die Wangen zauberte. Carzic, der sich halb erhoben und bereits zu einer Verbeugung angesetzt hatte, verzog den Mund und setzte sich wieder.
Scylla wunderte sich über den Namen, den der Mann mit dem weißen Mantel trug.
Ischariot.
Es hatte den Anschein, als handelte es sich bei ihm um den Kopf dieser Versammlung. Wie merkwürdig, ihm als Ehrentitel ausgerechnet den Namen des Mannes zu verleihen, der den Sohn Gottes verraten hatte! Doch dann fiel ihr ein, mit welcher Bewunderung Karol von Judas gesprochen hatte. Mehr als einmal.
»Höre ich da einen gewissen Neid, Baronin Metunova?«, sagte Ischariot schneidend.
»Nein, sicherlich nicht. Wir alle hatten bereits unsere Sternstunden. Carzic hat wenigstens gleichgezogen«, sie lächelte huldvoll zu ihm hinüber, »doch das ist meiner Ansicht nach nicht besonders bemerkenswert. Wäre es ein Rennen, würde ich sagen, dass er als Letzter ins Ziel gekommen ist. Wir anderen sind bereits beim nächsten Lauf.« Sie nahm einen weißen Spitzenfächer hervor und klappte ihn mit einer schnellen Bewegung auseinander. »Ich habe Euch unterbrochen, Ischariot. Verzeiht mir.« Sie fächelte langsam, überlegen und provozierend. Scylla betrachtete sie voller Bewunderung.
Ischariot begegnete ihrer kühlen Verachtung mit nur schlecht unterdrücktem Ärger, fuhr aber fort: »Kommen wir zu einem Gebiet, um das wir uns immer wieder kümmern müssen und das vorhin nicht ausreichend gewürdigt wurde.« Er sah eindringlich von Gesicht zu Gesicht. »Hat noch ein anderes Mitglied der Cognatio von neuerem Schädlingsbefall zu berichten?«
»Ich hatte eine Tenjac zwei Dörfer von meiner Residenz entfernt, die zwei Männer heimsuchte und sie übel vexierte«, berichtete eine Frau, die wesentlich jünger als die fächerbewehrte Baronin
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