Kinder Des Nebels
Weißblech anfachen musste, um ihn herauszuzerren und über die Schulter werfen zu können. Kurz hielt er inne, lauschte ins Dunkel der Nacht hinein und machte sich dann mit dem Sack auf den Weg zur Festung.
Er blieb neben einer großen, weiß gekalkten Gartenterrasse stehen, die sich neben einem spiegelnden Teich befand. Dann senkte er den Sack und warf dessen Inhalt - einen vor kurzem getöteten Menschen - auf den Boden.
Der Leichnam - ein gewisser Graf Charrs Entrone - kam mit dem Gesicht nach unten zum Liegen. Zwei tiefe Stichwunden klafften in seinen Flanken. Kelsier hatte den angetrunkenen Mann auf einer Straße kurz vor dem Skaa-Viertel überfallen und die Welt von einem weiteren Adligen befreit. Besonders Graf Entrone würde nicht vermisst werden, denn er war berüchtigt gewesen für seine perversen Vergnügungen. Insbesondere hatte er blutige Skaa-Kämpfe geliebt. Auf diese Weise hatte er seinen letzten Abend verbracht.
Nicht zufällig war Graf Entrone ein wichtiger politischer Verbündeter des Hauses Tekiel gewesen. Kelsier ließ den Leichnam in seinem eigenen Blut liegen. Die Gärtner würden ihn als Erste finden, und sobald die Dienerschaft von diesem Todesfall erfuhr, würde kein Adliger sie mehr zum Schweigen bringen können. Dieser Mord würde einen Aufschrei hervorrufen, und vermutlich machte man das Haus Izenry, Tekiels Gegner, für ihn verantwortlich. Doch Entrones verdächtig unerwarteter Tod würde das Haus Tekiel wachsam machen. Wenn dessen Mitglieder herumforschten, würden sie feststellen, dass Entrones Gegner im Wettspiel an jenem Abend Krus Geffenry gewesen war - ein Mann, dessen Haus die Tekiels um eine stärkere Unterstützung gebeten hatte. Krus war ein stadtbekannter Nebelgeborener und Messerkämpfer.
Und so würde das Rätselraten seinen Lauf nehmen. Hatte das Haus Izenry den Mord begangen? Oder war er ein Versuch, Tekiel zu höherer Wachsamkeit zu zwingen und dazu zu be wegen, Verbündete im niederen Adel zu suchen? Oder gab es noch eine dritte Möglichkeit: Wollte ein anderes Haus die Rivalität zwischen Tekiel und Izenry verstärken?
Kelsier sprang von der Gartenmauer und kratzte an dem falschen Bart, den er trug. Es war gleichgültig, wem das Haus Tekiel die Schuld zuweisen würde. Kelsiers wahres Ziel lag darin, ihnen Zweifel und Angst einzuflößen und sie misstrauisch zu machen. Das Chaos war sein stärkster Verbündeter beim Anfachen eines Krieges der Häuser. Wenn dieser Krieg endlich kam, würde jeder getötete Adlige eine Person weniger sein, mit der sich die Skaa bei ihrer Rebellion abgeben mussten.
Sobald Kelsier weit genug von der Festung Tekiel entfernt war, warf er eine Münze und sprang über die Dächer. Manchmal fragte er sich, was die Leute in den Häusern unter ihm wohl dachten, wenn sie über sich Schritte hörten. Wussten sie, dass ein Nebelgeborener ihre Heime als Straße benutzte, weil er sich dort frei bewegen konnte, ohne Wächtern oder Dieben in die Quere zu kommen? Oder schrieben die Bewohner die Laute den Nebelgeistern zu, die für alles Mögliche herhalten mussten?
Vermutlich bemerken sie mich nicht einmal. Gesunde Leute schlafen, wenn der Nebel kommt.
Er landete auf einem Spitzdach, holte seine Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und verstaute sie und das gefährliche Metall, aus dem sie bestand, wieder in seiner Kleidung. Viele Adlige trugen absichtlich Metall; es war ein dummer Tapferkeitsbeweis. Diese Gewohnheit hatten sie vom Obersten Herrscher persönlich übernommen. Kelsier hingegen trug nur sehr ungern Metall bei sich, sei es ein Ring, ein Armreif oder eine Uhr, und das auch nur, wenn es unbedingt sein musste.
Er sprang wieder in die Luft und nahm Kurs auf das Rußlabyrinth, ein Elendsquartier der Skaa am nördlichen Rande Luthadels. Es war eine gewaltige, überbordende Stadt. Immer wieder, nach nur wenigen Jahrzehnten, wurden neue Viertel hinzugefügt und die Stadtmauer dank des Schweißes und der Mühen der Skaa erweitert. Mit dem Heraufdämmern der modernen Kanal-Ära wurde Stein immer billiger und leichter zu bewegen.
Ich frage mich, warum er sich die Mühe mit dieser Mauer macht,
dachte Kelsier, während er über die Dächer entlang des gewaltigen Walls huschte.
Wer sollte die Stadt angreifen? Der Oberste Herrscher hat doch alles unter Kontrolle.
Seit Jahrhunderten hatte es keinen richtigen Krieg mehr im Letzten Reich gegeben. Die gelegentlichen »Rebellionen« bestanden aus höchstens einigen tausend Mann, die sich in den
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