Kinder Des Nebels
den Hinterhalt geraten und vernichtet worden sind. Das ist der größte Sieg, den die Skaa seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten errungen haben. Aber jetzt ist es Zeit, wegzugehen.«
Der alte Mann nickte respektvoll und schlurfte zurück in die Mitte des Lagers.
Kelsier stand verblüfft da.
Der größte Sieg, den die Skaa seit Jahrzehnten errungen haben ...
Das war es, wogegen er kämpfte. Nicht nur gegen den Obersten Herrscher, nicht nur gegen den Adel. Er kämpfte gegen tausend Jahre Gehirnwäsche, gegen tausend Jahre des Lebens in einer Gesellschaft, die den Tod von fünftausend Männern als »großen Sieg« bezeichnete. Das Leben war so hoffnungslos für die Skaa, dass sie bereits Trost in vorhersehbaren Niederlagen fanden.
»Das war kein Sieg, Mennis«, flüsterte Kelsier. »Ich werde dir noch zeigen, was ein Sieg ist.«
Er zwang sich zu einem Lächeln - es war kein Lächeln des Vergnügens oder der Befriedigung. Er lächelte trotz der Trauer, die er über den Tod seiner Männer verspürte; er lächelte, weil er etwas tun würde. Das war der Weg, auf dem er dem Obersten Herrscher - und sich selbst - beweisen wollte, dass er noch nicht besiegt war.
Nein, er würde nicht weggehen. Er war noch nicht fertig. Noch lange nicht.
VIERTER TEIL
Tänzer in einem Meer aus Nebel
Ich bin so müde geworden.
Kapitel 26
V in lag in ihrem Bett in Keulers Laden und spürte, wie es in ihrem Kopf pochte. Zum Glück wurden die Kopfschmerzen schwächer. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie an jenem schrecklichen ersten Morgen aufgewacht war. Der Schmerz war so stark gewesen, dass sie kaum hatte denken können, vom Bewegen ganz zu schweigen. Sie wusste nicht, wie es Kelsier gelungen war, die Überlebenden der Armee an sichere Orte zu bringen.
Das war nun schon mehr als zwei Wochen her. Ganze fünfzehn Tage, und ihr Kopf tat
noch immer
weh. Kelsier sagte, das sei gut für sie. Er behauptete, sie müsse noch viel mehr Übung im Umgang mit dem Weißblech bekommen, damit ihr Körper über alle Grenzen hinaus funktionierte. Trotz seiner Worte bezweifelte sie jedoch, dass etwas, das so sehr schmerzte, wirklich »gut« für sie sein konnte.
Natürlich wäre es eine nützliche Fähigkeit für sie. Das sah sie nun ein, da ihr Kopf nicht mehr ganz so stark pochte. Sie und Kelsier waren in nur einem Tag bis zum Schlachtfeld gerannt. Die Rückreise hatte zwei Wochen gedauert.
Vin stand auf und reckte und streckte sich. Sie waren kaum erst einen Tag zurück. Vermutlich war Kelsier die halbe Nacht aufgeblieben und hatte den anderen Bandenmitgliedern erzählt, was vorgefallen war. Vin jedoch war dankbar gewesen, sofort ins Bett gehen zu können. Die Nächte auf dem harten Erdboden hatten sie daran erinnert, dass ein bequemes Bett ein Luxus war, den sie inzwischen bereits als selbstverständlich ansah.
Sie gähnte, rieb sich abermals die Schläfen, zog ein Kleid an und machte sich auf den Weg zur Badekammer. Freudig sah sie, dass Keulers Lehrlinge daran gedacht hatten, ihr ein Bad einzulassen. Sie verriegelte die Tür, entkleidete sich und tauchte in das warme, leicht parfümierte Wasser ein. Hatte sie diese Düfte tatsächlich einmal als unangenehm empfunden? Sie machten Vin weniger unauffällig, aber das war ein geringer Preis für die Annehmlichkeit, sich den Schmutz und Ruß von der Reise abwaschen zu können.
Ihr längeres Haar aber gefiel ihr noch immer nicht. Sie wusch es, kämmte die Verfilzungen und Knoten aus und fragte sich, wie die Frauen bei Hofe es ertragen konnten, dass ihnen die Haare bis auf den Rücken fielen. Wie lange verbrachten sie wohl jeden Tag damit, es mithilfe einer Dienerin zu kämmen und zu frisieren? Vins Haare hatten noch nicht einmal die Schultern erreicht, und sie wollte sie bereits nicht mehr länger wachsen lassen.
Sie würden ihr um den Kopf fliegen und ins Gesicht peitschen, wenn sie sprang, und außerdem hätten ihre Feinde etwas, woran sie sich festhalten konnten.
Nach dem Bad kehrte sie in ihr Zimmer zurück, zog sich etwas Praktisches an und begab sich nach unten. Die Lehrlinge eilten im Werkraum umher, und die Hausdiener arbeiteten im oberen Stockwerk, aber in der Küche war es ruhig. Keuler, Docksohn, Hamm und Weher saßen beim Frühstück. Sie schauten auf, als Vin die Tür öffnete.
»Was ist los?«, fragte Vin mürrisch und blieb stehen. Das Bad hatte ihre Kopfschmerzen ein wenig gelindert, doch in ihrem Hinterkopf pochte es immer noch leicht.
Die vier Männer
Weitere Kostenlose Bücher