Kinder Des Nebels
gleichermaßen die Macht habe, sie zu zerstören.
Ich werde die Fähigkeit besitzen, jeden Wunsch meines Herzens zu erfüllen. »Er wird eine Gewalt in den Händen halten, über die kein Sterblicher je gebieten sollte.« Aber die Philosophen haben mich gewarnt, dass Eigensüchtigkeit diese Gewalt beschmutzen könnte.
Ist das eine Last, die ein einzelner Mensch tragen sollte? Ist das eine Versuchung, der ein Mensch widerstehen könnte? Ich fühle mich jetzt stark, aber was wird geschehen, wenn ich diese Macht anrühre? Sicher, ich werde die Welt retten, aber werde ich auch versuchen, sie mir Untertan
zu machen?
Meine Ängste sind so groß, während ich diese Zeilen mit einer eisverkrusteten Feder am Abend vor der Wiedergeburt der Welt niederschreibe. Raschek beobachtet mich. Er hasst mich. Die Höhle liegt über uns. Sie pulsiert. Meine Finger zittern. Nicht von der Kälte.
Morgen wird es vorbei sein.
Vin blätterte neugierig um. Doch die letzte Seite des dünnen Buches war leer. Sie blätterte wieder vor und las die letzten Zeilen. Wo war die nächste Eintragung?
Offenbar war Sazed mit dem Ende noch nicht fertig. Sie stand auf, seufzte und streckte sich. Sie hatte den gesamten neuen Text ohne eine Pause gelesen, was sogar sie selbst überraschte. Die Gärten des Hauses Renoux erstreckten sich vor ihr. Dieser Ort inmitten der gepflegten Spazierwege, der mächtigen Bäume und neben dem stillen Bach war ihr bevorzugter Leseplatz. Die Sonne stand tief am Himmel, und allmählich wurde es kühl.
Sie schritt über den gewundenen Pfad zum Herrenhaus. Trotz des kühlen Abends konnte sie sich einen Ort, wie ihn der Oberste Herrscher beschrieb, kaum vorstellen. Sie hatte schon einmal Schnee auf fernen Berggipfeln gesehen, aber sie hatte nur selten beobachtet, wie er fiel - und auch dann war es für gewöhnlich nichts als ein eisiger Matsch gewesen. Die Vorstellung, Tag für Tag so viel Schnee zu sehen und in der Gefahr zu schweben, dass er in großen Lawinen auf einen niederging ...
Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte solche Orte besuchen, egal, wie gefährlich sie waren. Auch wenn das Tagebuch nicht die gesamte Reise des Obersten Herrschers beschrieb, klangen doch einige der Schilderungen in ihm - die Eisfelder im Norden, der große schwarze See und die Wasserfälle von Terris - einfach wundervoll.
Wenn er bloß genauer beschrieben hätte, wie das alles aussieht,
dachte sie verärgert. Der Oberste Herrscher hatte zu viel Zeit damit verbracht, sich Sorgen zu machen. Allerdings musste sie zugeben, dass sie aufgrund seines Textes allmählich eine Art von ... Mitgefühl für ihn empfand. Es fiel ihr schwer, die Person in ihrer Vorstellung mit der dunklen Kreatur, die so vielen den Tod gebracht hatte, in Übereinstimmung zu bringen. Was war bei der Quelle der Erhebung geschehen? Was hatte ihn so drastisch verändert? Sie musste es unbedingt wissen.
Nun hatte sie das Haus erreicht und machte sich auf die Suche nach Sazed. Inzwischen trug sie wieder ein Kleid. Es war ihr unangenehm, wenn sie Hemd und Hose anhatte und dabei von jemand anderem als den Bandenmitgliedern gesehen wurde. Sie lächelte Graf Renoux' zweitem Verwalter zu, während sie an ihm vorüberging, stieg rasch die Treppe hoch und begab sich zur Bibliothek.
Sazed befand sich nicht darin. Sein kleiner Arbeitstisch war leer, die Lampe gelöscht, das Tintenfass trocken. Verärgert runzelte Vin die Stirn.
Wo immer er auch sein mag, er sollte besser an der Übersetzung arbeiten!
Sie ging wieder ins Erdgeschoss, fragte nach Sazed, und eine Dienerin teilte ihr mit, er befinde sich in der Hauptküche. Verwundert schritt Vin zum hinteren Teil der Halle.
Vielleicht holt er sich etwas zu essen?
Sie traf Sazed inmitten einer kleinen Gruppe von Bediensteten an; er deutete gerade auf eine Liste, die auf dem Tisch lag, und sagte etwas mit leiser Stimme. Als Vin eintrat, bemerkte er es nicht einmal.
»Sazed?«, unterbrach sie ihn.
Er drehte sich um. »Ja, Herrin Valette?«, fragte er und verneigte sich leicht.
»Was machst du hier?«
»Ich kümmere mich um Graf Renoux' Nahrungsmittelvorräte, Herrin. Auch wenn mir aufgetragen wurde, Euch zu helfen, bin ich immer noch der Haushofmeister und habe gewisse Pflichten, wenn mich keine andere Beschäftigung in Anspruch nimmt.«
»Machst du dich bald wieder an die Übersetzung?«
Sazed neigte den Kopf. »Die Übersetzung, Herrin? Sie ist fertig.«
»Und wo ist der letzte Teil?«
»Ich habe ihn Euch gegeben«, sagte
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