Kinder Des Nebels
das Abendessen verpasst.«
Eine verpasste Mahlzeit war nichts Neues für Vin. Aber Renoux winkte sofort einigen Dienstboten zu, und sie huschten davon. Renoux begab sich ebenfalls ins Haus, und Vin folgte ihm. Allerdings blieb sie in der Tür stehen. Sazed wartete geduldig hinter ihr.
Kelsier hielt inne und drehte sich um, als er bemerkte, dass sie ihm nicht folgte. »Vin?«
»Es ist so ... sauber«, sagte sie; eine andere Beschreibung fiel ihr nicht ein. Bei ihren Aufträgen hatte sie gelegentlich die Häuser des Adels betreten. Doch dies war immer in Nacht und Finsternis geschehen. Auf den hell erleuchteten Anblick vor ihr war sie daher nicht gefasst gewesen.
Die weißen Marmorböden des Hauses Renoux schienen aus sich selbst heraus zu leuchten; das Licht von Dutzenden Laternen spiegelte sich in ihnen wider. Alles war ... jungfräulich. Die Wände waren weiß mit Ausnahme der Stellen, die mit den üblichen Tiermalereien bedeckt waren. Ein strahlender Lüster glitzerte über einer Doppeltreppe, und der übrige Schmuck des Raumes - Kristallskulpturen, Vasen mit Birkenzweigen - war vollkommen unberührt von Ruß, Schmutz oder Fingerabdrücken.
Kelsier musste lachen. »Nun, ihre Reaktion ist ein großes Lob für deine Bemühungen«, sagte er zu Graf Renoux. Vin ließ es zu, dass sie in das Gebäude geführt wurde. Die Gruppe wandte sich nach rechts und betrat einen Raum, dessen Weiß durch die kastanienbraunen Möbel und Draperien ein wenig gedämpft wurde.
Renoux blieb stehen. »Vielleicht könnte die Herrin hier eine kleine Erfrischung zu sich nehmen«, sagte er zu Kelsier. »Es gibt da einige Angelegenheiten von ... etwas delikater Natur, die ich gern mit dir besprechen möchte.«
Kelsier zuckte die Achseln. »Das ist mir recht«, meinte er und folge Renoux auf eine weitere Tür zu. »Saze, warum leistest du nicht Vin ein wenig Gesellschaft, während ich mich mit Graf Renoux unterhalte?«
»Selbstverständlich, Meister Kelsier.«
Kelsier lächelte und sah Vin an. Sie wusste, dass er Sazed nur bei ihr ließ, damit sie nicht lauschen konnte.
Sie warf den beiden Männern einen verärgerten Blick nach.
Was hast du noch gleich über »Vertrauen« gesagt, Kelsier?
Noch wütender aber war sie über sich selbst, weil sie so aufgebracht war. Was kümmerte es sie, wenn Kelsier sie ausschloss? Sie war doch ihr ganzes Leben lang ignoriert und fortgeschickt worden. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, wenn andere Anführer sie nicht in die Planungen eingeschlossen hatten.
Vin setzte sich auf einen der fest gepolsterten kastanienbraunen Stühle und zog wieder die Beine unter sich. Sie wusste, was das Problem war. Kelsier hatte ihr gegenüber zu viel Respekt gezeigt und ihr dadurch das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Allmählich glaubte sie, sein Vertrauen
verdient
zu haben. Reens Gelächter in ihrem Hinterkopf zog diesen Gedanken in den Schmutz. Sie ärgerte sich sowohl über Kelsier als auch über sich selbst und verspürte ein Gefühl der Scham, obwohl sie den Grund dafür nicht recht begriff.
Renoux' Diener brachten ihr ein Tablett mit Früchten und Broten. Sie richteten einen kleinen Tisch neben ihrem Stuhl ein und gaben ihr sogar einen Kristallbecher, der mit einer glitzernden roten Flüssigkeit gefüllt war. Sie wusste nicht, ob es sich um Wein oder um Saft handelte, und sie beabsichtigte nicht, es herauszufinden. Allerdings stocherte sie in den Früchten und Broten herum. Ihr Instinkt erlaubte es ihr nicht, ein kostenloses Essen zurückgehen zu lassen, auch wenn es von fremden Händen zubereitet war.
Sazed kam zu ihr hinüber und stellte sich rechts hinter ihren Stuhl. Dort wartete er in steifer Haltung mit verschränkten Händen und starr geradeaus gerichtetem Blick. Sicherlich wollte er respektvoll wirken, aber seine hoch aufragende Gestalt war nicht gerade dazu angetan, ihre Laune zu bessern.
Vin versuchte sich ganz auf ihre Umgebung zu konzentrieren, doch dieses Bemühen erinnerte sie nur wieder daran, wie wertvoll die Möbel waren. Sie fühlte sich nicht wohl inmitten solchen Reichtums, sondern hatte den Eindruck, ein schwarzer Fleck auf einem ansonsten sauberen Teppich zu sein. Sie aß nicht von dem Brot, weil sie Angst hatte, Krümel auf dem Boden zu verstreuen, und sie machte sich Sorgen, ihre Beine und Füße - die auf der Wanderung über Land mit Ruß befleckt worden waren - könnten das Zimmer verunreinigen.
All diese Sauberkeit rührt von den Skaa her,
dachte Vin.
Warum sollte ich mir Gedanken
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