Kinder Des Nebels
nachdenken. Vielen Dank, Herrin. Ihr seid sehr geduldig mit mir.«
»Noch ein wenig darüber nachdenken?«, fragte Vin. »Das ist schon die fünfte Religion, zu der du mich bekehren willst, Sazed. Wie viele gibt es denn noch?«
»Fünfhundertzweiundsechzig«, antwortete er. »Zumindest ist das die Zahl der Glaubenssysteme, die ich kenne. Bestimmt gibt es noch weitere, die aber leider aus dieser Welt verschwunden sind, ohne Spuren zu hinterlassen, so dass mein Volk sie nicht mehr erforschen kann.«
Vin dachte nach. »Und du kennst die Inhalte all dieser Religionen
auswendig!«
»So gut wie möglich«, sagte Sazed. »Ihre Gebete, ihre Glaubenssätze, ihre Mythologien. Viele ähneln sich sehr und sind entweder Abspaltungen oder sektiererische Untergruppen von anderen.«
»Trotzdem - wie kannst du das alles im Kopf behalten?«
»Ich habe ... meine Methoden«, antwortete Sazed.
»Und wozu soll das dienen?«
Sazed zog die Stirn kraus. »Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist offensichtlich. Menschen sind wertvoll, Dame Vin, und daher sind es auch ihre Glaubensvorstellungen. Seit der Erhebung des Obersten Herrschers vor tausend Jahren sind so viele Religionen verschwunden. Das Stahlministerium verbietet es, ein anderes Wesen als den Obersten Herrscher anzubeten, und die Inquisitoren waren eifrig damit beschäftigt, Hunderte von Religionen zu vernichten. Wenn sich niemand mehr an sie erinnert, werden sie einfach verschwinden.«
»Willst du damit sagen, dass du versuchst, mir Religionen schmackhaft zu machen, die schon seit tausend Jahren tot sind?«, fragte Vin ungläubig.
Sazed nickte.
Ist denn jeder, der mit Kelsier zu tun hat, verrückt?
»Das Letzte Reich kann nicht für immer Bestand haben«, sagte Sazed leise. »Ich weiß nicht, ob es Meister Kelsier sein wird, der es eines Tages zu Fall bringt, aber sein Ende wird kommen. Und dann, wenn das Stahlministerium nicht mehr herrscht, werden die Menschen zum Glauben ihrer Väter zurückkehren wollen. An jenem Tag werden sie sich an die Bewahrer wenden, und an jenem Tag werden wir der Menschheit ihre vergessenen Wahrheiten zurückgeben.«
»Die Bewahrer?«, fragte Vin, als Cosahn vor sie trat und an ihrem Pony herumschnitt. »Es gibt noch andere wie dich?«
»Nicht viele«, gestand Sazed ein. »Aber einige. Sie werden die Wahrheiten an die nächste Generation weitergeben.«
Vin saß nachdenklich da und widerstand dem Drang, sich unter Cosahns Diensten zu winden. Die Frau ließ sich viel Zeit. Als Reen Vins Haare geschnitten hatte, war er immer sehr schnell fertig gewesen.
»Sollen wir mit Euren Lektionen fortfahren, während wir hier warten, Herrin Vin?«, fragte Sazed.
Vin sah den Terriser an, der ganz schwach lächelte. Er wusste, dass sie nun seine Gefangene war. Sie konnte sich nicht vor ihm verstecken oder auch nur beim Fenster sitzen und in den Nebel hinausstarren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zuzuhören. »Gern.«
»Könnt Ihr alle zehn Großen Häuser von Luthadel der Reihenfolge ihres Einflusses nach benennen?«
»Wager, Hasting, Elariel, Tekiel, Lekal, Erikeller, Erikell, Stulz, Urbain und Buvidas.«
»Gut«, lobte Sazed sie. »Und wer seid Ihr?«
»Ich bin die Herrin Valette Renoux, vierte Nichte von Graf Teven Renoux, dem dieses Haus hier gehört. Meine Eltern - Graf Hadren und Gräfin Fellette Renoux - leben in Chakath, einer Stadt im Westlichen Dominium. Der Hauptexportartikel meiner Heimat ist Wolle. Meine Familie handelt mit Färbstoffen, vor allem mit Rot von den Schnecken, die es dort zuhauf gibt, und mit Gelb von den Baumrinden. Als Bestandteil eines Handelsabkommens mit einem entfernten Verwandten haben mich meine Eltern nach Luthadel geschickt, damit ich einige Zeit bei Hofe verbringen kann.«
Sazed nickte. »Und was haltet Ihr von dieser Gelegenheit?«
»Ich bin erstaunt und überwältigt«, sagte Vin. »Die Leute werden mir ihre Aufmerksamkeit schenken, weil sie sich bei Graf Renoux einen Vorteil verschaffen wollen. Da ich mit dem höfischen Leben nicht vertraut bin, fühle ich mich durch diese Aufmerksamkeit geschmeichelt. Ich werde mich der adligen Gesellschaft anpassen, mich ruhig verhalten und alle Schwierigkeiten meiden.«
»Ihr habt ein bewundernswertes Gedächtnis, Herrin«, lobte Sazed sie. »Ich als Euer demütiger Diener frage mich, wie erfolgreich Ihr sein könntet, wenn Ihr Euch eher dem Lernen als dem Vermeiden des Unterrichts ergeben würdet.«
Vin sah ihn an. »Sind alle demütigen Diener und
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