Kinder erziehen - die 101 wichtigsten Fragen und Antworten
vertraut ist, wird diese kaum noch verinnerlichen.
Der beste Rat in Sachen Charaktererziehung ist übrigens: «Behandle dein Kind so, als sei es bereits der gute Mensch, der es mal werden soll.»
17 Sind Märchen zu altmodisch und brutal?
Immer mehr Kinder kennen die alten Grimm- und Andersen-Märchen nur noch animiert oder als Comic auf dem Zahnputzbecher. Schneewittchen und die anderen haben durch Prinzessin Lillifee & Co mächtig Konkurrenz bekommen. Um auf dem heiß umkämpften Kinderbuch-, Film- und Spielzeugmarkt mithalten zu können, wurde aus dem armen Aschenputtel eine Prinzessin Proletta, die als «Cinderella» in Disneyland Autogramme verteilt. «Die kleine Meerjungfrau» ist zu «Arielle» mutiert, ein Wesen, das nur noch wenig gemein hat mit dem geheimnisvollen, traurigen Mädchen der Meere.
Märchen gelten als weltfremd und langweilig. Die edlen Jünglinge und sittsamen Mädchen, so argwöhnen aufgeklärte Zeitgenossen, repräsentieren völlig überholte, fragwürdige Rollenbilder. Die Schilderungen von abgeschlagenen Fersen und brennenden Hexen sind abstoßend und grausam. Die Sprache ist verstaubt und verschroben.
Da ist was dran. Aber Märchen sind auch ein «Sesam, öffne dich» für das, was sich im Unterbewusstsein abspielt, wo sich Wünsche, Träume und Ängste mit realen Erfahrungen und Erlebnissen verweben. Nicht von ungefähr beginnen sie oft mit der Formel «Als das Wünschen noch geholfen hat …». Märchengestalten sind keine realen Menschen, sondern Seelenbilder. Psychoanalytiker nennen sie «archaische Identifikationsfiguren». Rapunzel, Rotkäppchen, Aschenputtel sind Geschöpfe, mit denen Kinder mitleiden, mitzittern und mithoffen – in der Gewissheit, dass es immer gut ausgeht.
Märchen eröffnen eine geheimnisvolle Welt voller Abenteuer. Die wundersamen, schaurig-schönen, manchmal tieftraurigen und grausamen Geschichten von bösen Hexen und schönen Königstöchtern, von blutrünstigen Riesen und Stroh, das zu Gold wird, haben nichts von ihrem Zauber verloren.
Kinder lieben Märchen. Vor allem in der magischen Phase zwischen vier und sieben Jahren gehen sie in den Märchenwelten selbstverständlich ein und aus. Man fängt an zu erzählenoder vorzulesen – und schon werden Schneewittchen, Hänsel und Gretel oder das tapfere Schneiderlein lebendig.
Die mitunter etwas verstaubt anmutende Sprache sorgt für weitere Faszination. Kinder erweitern ihren Sprachschatz, erleben neue Sprachbilder und lernen mit Sprache zu spielen. Kinder, die mit Märchen aufwachsen, sind sprachgewandter als solche, die nur das «Pika, pika» der Pokémons kennen.
Märchen geben Halt und Orientierung, weil sie elementare Ordnung in Alltagserfahrungen bringen. Sie nehmen existentielle Ängste ernst und sprechen sie unmittelbar aus: das Bedürfnis, geliebt zu werden, die Angst, als nutzlos zu gelten, die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tod. Deshalb berichten Märchen davon, dass man sich trotz aller Widrigkeiten, Gefahren und Rückschläge nicht aufgeben darf. Dass das Gute siegt, egal, welche niederträchtigen Absichten das listige Rumpelstilzchen und die böse Hexe verfolgen. Am Ende springt Rotkäppchen vergnügt durch den Wald, die Bremer Stadtmusikanten machen es sich im Räuberhaus gemütlich und Dornröschen wird von einem Prinzen wachgeküsst. «Und so lebten sie glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind…»
So kommt es, dass Kinder eine Geschichte wieder und wieder hören wollen. Die Wiederholungen helfen, das Geschehen zu bannen, und sorgen dafür, dass sich nach Grusel und Schrecken Geborgenheit einstellt.
18 Vertrauen nach einem Vertrauensbruch – wie geht das?
Kinder tun immer mal wieder Dinge, die man ohne zu zögern als «hirnrissig» bezeichnen wird. Sie rauchen beispielsweise heimlich, bis ihnen übel wird, erzählen aber, sie seien beim Eisessen gewesen. Wenn man sie dann zur Rede stellt, streiten sie alles ab, obwohl sie wie ein Räuchermännchen riechen. Leider sind solche Kindereien erst im Rückblick noch zwanzig Jahren lustig. In der Gegenwart machen sie Eltern heftiges Kopfzerbrechen. Dabei beschäftigt sie, um bei eben genanntem Beispielzu bleiben, weniger die Zigarette als der Vertrauensbruch selbst.
Aber Kinder machen so was, und zwar nicht nur einmal. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Fähigkeit, andere hinters Licht zu führen, dem Menschen gewissermaßen in die Wiege gelegt wird. Wie andere Begabungen auch, ist sie unterschiedlich stark
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