Kinder
hatte.
»Schauen Sie«, sagte Franz Moeller und beugte sich ein wenig zu
ihnen hin.
Annette Pietsch sah kurz zur Tür – sie war noch immer zu und Moeller
redete sicher nicht zufällig so leise, dass man ihn selbst direkt hinter der
Tür nicht würde verstehen können.
»Ich erklär’s Ihnen: Ihre Kinder sind mir herzlich gleichgültig. Wir
haben hier Schüler auf Vordermann zu bringen, wir haben einen Leistungsgedanken
zu pflegen und wir wollen aus diesem trüben Haufen Gymnasiasten diejenigen
herausheben, fördern und fordern, die später einmal zur Elite taugen.«
Rainer Pietsch traute seinen Ohren kaum.
»Ihre Kinder«, fuhr Moeller fort, »sind da eher als Kanonenfutter
vorgesehen – entschuldigen Sie bitte, wenn ich das so deutlich sage. Sarah ist
nicht dumm, Lukas hat Pech gehabt, mit Michael hätte es klappen können – wenn
Sie ihm mit Ihrem Protest nicht den Weg nach oben verbaut hätten.«
»Spinnen Sie eigentlich?«, brauste Annette Pietsch auf.
Franz Moeller hob die Hand. »Ruhe, bitte. Ich rede jetzt.«
»Mit Ihren Psychospielchen kommen Sie nicht durch, Sie Schrat!«
Annette Pietsch war aufgesprungen.
»Oh doch, denn sie funktionieren, wie Sie selbst gerade erleben.
Nehmen wir mal an, Herr Wehling steht draußen im Flur ganz zufällig in der Nähe
der Tür. Dann hört er Sie hier herumkeifen, mich hört er allenfalls, wie ich in
ruhigem Ton versuche, Sie wieder zur Vernunft zu bringen. Und außerdem habe ich
ja vorhin, als er noch im Raum war, angekündigt, dass wir mit Ihnen einen
Kompromiss suchen wollen, um Ihren Kindern den Schulwechsel zu ersparen.«
Moeller grinste. »Welchen Eindruck wird Herr Wehling deshalb wohl vom Verlauf
dieses Gesprächs mit in sein Büro nehmen, was meinen Sie?«
Annette Pietsch traute ihren Ohren nicht.
»Aber wir wollten ja offen mit Ihnen reden. Also … Mit Ihren
Protesten haben Sie uns einen großen Gefallen getan, vor allem, nachdem Sie und
die armselige Frau Werkmann inzwischen völlig isoliert sind. Wir haben den Kindern
mitgeteilt, dass wir wegen der Elternproteste bei unseren bisherigen Methoden
leider nicht bleiben können – falls Sie sich fragen, wann genau wir das gemacht
haben: Ich nehme an, Ihre Kinder haben von diesem Tag an etwas gereizt auf Sie
reagiert. Vor allem Michael, vermute ich, der bis dahin von meiner Frau sehr
freundlich und unterstützend behandelt worden war. Lukas wiederum hatte einfach
Pech, dass er sich ausgerechnet mit Kevin angefreundet hat – und als wir unsere
schützende Hand über dem armen Kevin zurückgezogen haben, bekam er ebenfalls
Schwierigkeiten. Es tut Gruppen gut, wenn sich eine klare Hierarchie
herausbildet – dabei haben wir den Kindern geholfen. In manchen Klassen, wie
der 9c, gestaltet sich das etwas schwieriger, aber ein Junge wie Kevin drängt
sich für eine Opferrolle geradezu auf. Wenn solche Kinder anfangs noch unter
unserem Schutz stehen, irgendwann aber nicht mehr, kommt oft zusätzliche
Dynamik in die Entwicklung.«
Rainer Pietsch war inzwischen aufgestanden und zupfte seine Frau am
Ärmel. »Komm, Annette, wir gehen.«
»Wissen Sie: Kevin hätte das Tempo in der Klasse ohnehin nicht
durchhalten können. Und ich habe den Eindruck, sein Tod hat die anderen nicht
nur aufgewühlt – sondern … nun ja: vielleicht sogar angestachelt? Jeder hat
in einer Gruppe nun mal seine Rolle zu spielen, und Kevins Rolle …« Franz
Moeller brach ab und zuckte mit den Schultern.
Annette Pietsch sah fassungslos zwischen den beiden Lehrern hin und
her. Rosemarie Moeller sah an ihr vorbei an die Wand, ihr Gesicht war ganz
entspannt und auf ihrem Mund schien sich der Anflug eines Lächelns abzuzeichnen.
Franz Moeller saß ruhig auf seinem Stuhl und wirkte sehr zufrieden mit sich und
der Situation.
»Sie sind krank!«, zischte sie dann noch und wandte sich ab.
Als sie fast an der Tür waren, stand Franz Moeller plötzlich ganz
dicht hinter Rainer Pietsch.
»Und mit Kevins Unfall«, raunte er ihm ins Ohr, »hatten Sie
vollkommen recht. Wir haben ihn nicht überfahren, das ist klar – aber falls
jemand dabei nachgeholfen haben sollte, dass er vor das Auto stolperte, passt
das durchaus in unsere Strategie, durch soziale Reibung weitere
Leistungssteigerungen bei den verbleibenden Schülern zu provozieren.«
Rainer Pietsch erstarrte. Dann riss er sich zusammen und folgte
seiner Frau aus dem Raum.
Nicht weit von der Tür entfernt stand Rektor Wehling und sah die
beiden Eltern missbilligend an, Franz Moeller
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