Kinderstation
Arzt?«
»Trotzdem. Ich hatte keine Hoffnung mehr.« Dr. Prenneis zögerte und machte ein paar Schluckbewegungen, als säße ihm ein Fremdkörper im Hals. »Soweit privat, Herr Professor. Dienstlich wird mich Ihr Fall, diese dumme Pneumonie-Geschichte da, in Zukunft sehr interessieren. Ich werde mich selbst darum kümmern und die Herren der zuständigen Kammer sprechen. Mir scheint, daß hier aus einem Luftzug ein steifer Wind gemacht wird.« Dr. Prenneis wischte sich über die Augen. Das ›Dienstliche‹ war beendet. Er hatte genug angedeutet, und Karchow verstand ihn sehr gut. »Wann können wir unseren Sohn sehen?«
»In vielleicht einer Stunde, Herr Präsident.« Karchow knöpfte lässig seinen weißen Kittel auf. »Wenn ich die Herrschaften solange in unser Kasino einladen darf –«
»Wir nehmen Ihre Zeit ungebührend in Anspruch, Herr Professor.«
»Durchaus nicht. Ich habe mich für Sie freigemacht.«
Höflichkeitsfloskeln, verlogene Sentenzen, gesellschaftliche Maskerade. Prof. Karchow kniff die Lippen zusammen. Wie anders würde die Unterhaltung ausgesehen haben, wenn er hätte melden müssen: Ihr Sohn ist nicht mehr zu retten gewesen.
Der Erfolgreiche ist immer König, dachte er bitter. Aber wehe ihm, wenn er einziges Mal danebentritt und stolpert.
Vier Tage nach der Rettung des kleinen Sohnes des Landgerichtspräsidenten kam die Quittung ins Haus Karchows.
Staatsanwalt Dr. Allach rief an. Man hörte seiner Stimme an, daß er mit dem, was er zu sagen hatte, nicht einverstanden war.
»Peter Kallenbach ist aus der Haft entlassen worden«, sagte er. »Das Gericht hat einen Eröffnungsbeschluß abgelehnt, weil die Straftat zu geringfügig ist. Sie verweist auf den Privatklageweg. Du kannst also diesen Kallenbach wegen Beleidigung oder Verleumdung anzeigen, wenn du willst.«
»Ich will aber nicht«, antwortete Karchow erfreut. »Und wie geht es nun weiter?«
»Kallenbach ist bereits aus dem U-Gefängnis heraus. Die Akten sind geschlossen und werden verstauben. Ich nehme an, daß Kallenbach nun wieder bei dir auftaucht und wieder um seine 200 DM bittet. Du Rindvieh wirst sie ihm geben.«
»Nein, jetzt nicht mehr.«
»Und warum auf einmal nicht?«
»Die Sache mit den Pneumonien wird vergessen werden … aber die beiden neuen Erfolge aus meiner Klinik, die Trennung der Siamesen und die Rettung des Präsidentensohnes – letzteres wird von Mund zu Mund wandern –, geben ein anderes Bild des Hauses ›Bethlehem‹, als es Kallenbach gezeichnet hat.«
Es war ein Irrtum Prof. Karchows, zu glauben, daß Erfolge geeignet sind, auch kleinste Mißerfolge zu überdecken. Die Welt verlangt von einem großen Arzt stets Großes, Erhabenes, Einmaliges, Wunderbares … um so mehr aber fallen die Menschen wie Bestien über den Berühmten her, wenn auch er sich irrte und die Illusion der Masse zerstörte, Gott und er seien unfehlbar.
Was bedeutet die Trennung von siamesischen Zwillingen? Was bedeutet es, daß Hunderte Kinder unter seinen Händen gesund werden, daß tagaus, tagein Ärzte und Schwestern an den kleinen Betten stehen und gegen die Krankheiten kämpfen. Es ist selbstverständlich. Aber ein einziger Fehlgriff unter tausend Griffen, und man richtet ein Kreuz auf, einen Galgen der Empörung.
Arzt sein heißt zum Märtyrer bereit zu sein.
Man sollte es in den Eid des Hippokrates aufnehmen.
Prof. Karchow merkte es schon am nächsten Tag, nachdem er am Abend vorher mit einer Flasche Sekt die elegante Lösung des Kallenbach-Problems gefeiert hatte.
Der Redakteur eines kleinen Wochenblattes, das von den Alltagssensationen und den Liebschaften berühmter Zeitgenossen lebte, rief in der Klinik an.
»Es liegt uns nichts daran, die Bevölkerung zu beunruhigen oder das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stören«, sagte der Redakteur zu Prof. Karchow am Telefon. »Es geht uns nur um die Wahrheit! Um die Wahrung des freien Wortes. Dürfen wir einen unserer Herren hinüberschicken, damit er sich ein Bild über Ihre Klinik macht?«
»Nein«, sagte Prof. Karchow grob. »Mein Haus ist eine Herberge von kranken Kindern, aber nicht der Nährboden billiger Sensationen.«
Das war ein Fehler.
In dem Wochenblatt erschien eine Artikelserie. Diktatoren in Weiß! Prof. Karchow hieß darin Prof. Warschau, aber jeder wußte, wer gemeint war.
Es kostete Karchow größte Mühe, ruhig zu bleiben und zu schweigen, obwohl seine Frau, die geborene Baronesse, wieder eine Migräne bekam und zur Kur nach Meran
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