Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
unnötig war, andererseits aber die unbestreitbare Symbolkraft legten diese Vermutung nahe. Jetzt musste er dieses Symbol nur noch entschlüsseln. Er dachte nach – was sah er hier, was bedeueten die Puppen im Swimmingpool; er versuchte, sich über die Bedeutung jedes einzelnen Elements klar zu werden.
Das Wasser …
Das wichtigste Element war das Wasser. Auf dem Boden der Wanne lagen auch organische Stoffe, und er nahm einen leichten Uringeruch wahr. Er folgerte daraus, dass sie tatsächlich in diesem kalten Wasser gestorben war.
Das Wasser hier und das Wasser draußen … Es regnete … Hatte der Mörder diese Gewitternacht abgewartet, um zuzuschlagen?
Er dachte daran, dass ihm beim Hinaufgehen keine besonderen Spuren auf der Treppe aufgefallen waren. Wäre der Körper an einem anderen Ort verschnürt und anschließend hierher geschleift worden, dann hätte er sehr wahrscheinlich auf den Fußleisten Kratzer hinterlassen und den Teppichboden zerrissen, oder man hätte wenigstens Schleifspuren gesehen. Er würde die Techniker bitten, das Treppenhaus gründlich zu untersuchen und Proben zu nehmen, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Wieder betrachtete er die junge Frau. Er wurde von einem plötzlichen Schwindel erfasst. Sie hatte noch eine Zukunft gehabt. Wer verdiente es, so jung zu sterben? Der Blick im Wasser erzählte ihm alles Übrige: Sie hatte Angst, große Angst gehabt, ehe sie starb. Sie hatte gewusst, dass es vorbei war, dass sie kein Erbarmen finden würde, dass sie niemals wissen würde, was Altern bedeutete. Woran hatte sie gedacht? An die Vergangenheit oder an die Zukunft? An verpasste Gelegenheiten, an zweite Chancen, die sie nicht bekäme, an nie verwirklichte Pläne, an ihre Liebhaber oder an die große Liebe? Oder einfach nur, dass sie weiter leben wollte? Sie hatte sich mit der wilden Kraft eines Tieres gewehrt, das in die Falle gegangen ist. Aber da war sie schon in dem engen Schnürkorsett gefangen wie eine Spinnenbeute, und an ihrer Haut hatte sie gespürt, wie der Wasserspiegel langsam und unerbittlich anstieg. Während die Panik in ihrem Kopf brüllte wie ein Sturm und sie einfach hätte losschreien wollen, hatte die kleine Taschenlampe das wirkungsvoller als ein Knebel verhindert, und sie hatte nur noch durch die Nase atmen können, die schmerzende Kehle war um den Fremdkörper herum ganz angeschwollen, sodass das Gehirn nicht mehr ausreichend Sauerstoff bekam. Als das Wasser in ihren Mund eindrang, hatte sie bestimmt krampfartig nach Luft geschnappt, und als es ihr in die Nasenlöcher stieg, ihr Gesicht bedeckte und die Hornhaut ihrer weit aufgerissenen Augen überspülte, war aus der Panik blankes Entsetzen geworden …
Plötzlich gingen die Lichter wieder an, und sie zuckten zusammen.
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es Espérandieu.
„Erklären Sie mir, Commandant, warum ich Sie mit den Ermittlungen in diesem Fall betrauen sollte.“
Servaz hob den Kopf und sah Castaing an. Der Staatsanwalt steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er sie anzündete, knisterte sie leise. Wie ein Totempfahl stand er im strömenden Regen im Scheinwerferlicht. Er musterte Servaz von Kopf bis Fuß.
„ Warum? Weil alle von Ihnen erwarten, dass Sie es tun. Weil es das Vernünftigste ist. Weil MAN SIE FRAGEN WIRD, WARUM SIE ES NICHT GETAN HABEN, wenn Sie es nicht tun und die Ermittlungen kläglich scheitern.“
Die tief eingesunkenen kleinen Augen funkelten, ohne dass Servaz hätte sagen können, ob es Wut, Belustigung oder eine Mischung aus beidem war. Was in diesem Hünen vor sich ging, war erstaunlich schwer zu durchschauen.
„Cathy d´Humières hat Sie über den grünen Klee gelobt.“
Sein Tonfall verriet unmissverständlich seine Skepsis.
„Sie sagt, Ihre Ermittlungsgruppe sei die Beste, mit der sie jemals zusammengearbeitet hat. Kein gerade kleines Kompliment, oder?“
Servaz schwieg.
„Ich will über jede Ihrer Aktionen und jeden Fortschritt bei den Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werden, ist das klar?“
Er nickte nur.
„Ich übertrage die Ermittlungen der Kriminalpolizeidirektion Toulouse und rufe umgehend Ihren Vorgesetzten an. Regel Nummer eins: Keine Heimlichtuerei und keine ermittlungstaktischen Tricksereien. Anders gesagt, Sie unternehmen nichts ohne meine ausdrückliche vorherige Zustimmung.“
Unter den vorspringenden Augenbrauenbögen hervor suchte Castaing nach einem Zeichen der Zustimmung.
„Regel Nummer zwei: Alles, was die Presse angeht,
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