Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
weißen Gesichter der Puppen glänzten in dem grellen Licht – ebenso wie ihre starren, blauen Augen. Allerdings wirkten die Augen der Puppen, ganz anders als die von Claire Diemar, seltsam lebendig, dachte Servaz schaudernd. Genauer gesagt schienen sie von einer lebhaften Feindseligkeit erfüllt.
Er ging langsam um das Becken herum, sorgfältig achtete er darauf, nicht auf den nassen Bodenfliesen auszurutschen. Er hatte das Gefühl, dass irgendetwas am Verhalten des Opfers den Mörder angelockt haben musste. So wie ein Raubtier in der Natur ein bestimmtes Beuteschema hat und nicht aufs Geratewohl jagt.
Alles an dieser Inszenierung sagte ihm, dass auch hier das Opfer nicht zufällig ausgewählt worden war.
Er blieb auf der Längsseite des Beckens gegenüber der Mauer stehen, die den Garten von der Straße trennte. Er sah nach oben. Über der Mauer sah er das Obergeschoss des Hauses gegenüber. Ein Fenster ging direkt auf den Swimmingpool. Von da aus musste der englische Nachbar Hugo und die Puppen entdeckt haben. Hätte Hugo auf der anderen Seite des Beckens im Schutz der hohen Mauer gesessen, dann hätte ihn niemand gesehen. Aber er hatte sich auf die Seite gesetzt, auf der jetzt Servaz stand. Vielleicht hatte er nicht einmal darüber nachgedacht, vielleicht war er nach dem, was ihm passiert war, einfach zu high, zu verwirrt, zu verstört gewesen, um auf irgendetwas anderes zu achten. Stirnrunzelnd zog Servaz den Kopf zwischen die Schultern, der Regen hämmerte auf seinen Schädel und tropfte ihm in den Nacken und den Kragen. Diese ganze Geschichte war irgendwie seltsam.
5
Die Jagd nach dem Snark
Oliver Winshaws Augen waren genauso lebhaft wie die eines Fischs, der gerade aus dem Wasser gezogen wurde. Und trotz der späten Stunde wirkte der alte Herr nicht im Geringsten erschöpft. Servaz fiel auf, dass Winshaws Frau zwar keinen Ton von sich gab, sie aber aufmerksam beobachtete und sich nicht das Geringste entgehen ließ. Genauso wie ihr Ehemann machte sie alles andere als einen verschlafenen Eindruck. Zwei muntere Senioren bei klarem Verstand, die bestimmt ein interessantes Leben gehabt hatten und alles daransetzten, dass ihre Gehirnzellen so lange wie möglich reibungslos funktionierten.
„Nur um sicherzugehen, frage ich noch einmal: Ihnen ist in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein. Nichts. Tut mir leid.“
„Nicht einmal ein Kerl, der sich hier herumgetrieben hat, jemand, der bei Ihrer Nachbarin geläutet hat, irgendetwas, was Sie zunächst nicht weiter beachtet haben, was Ihnen aber heute in Anbetracht dieses Verbrechens suspekt erscheint. Ich bitte Sie, genau nachzudenken, das ist wichtig.“
„Wir sind uns der Bedeutung dieser Sache vollauf bewusst“, sagte die Frau mit fester Stimme. Es waren ihre ersten Worte. „Mein Mann versucht Ihnen zu helfen, Commissaire, das sehen Sie doch.“
Servaz sah Oliver an. Das linke Auge des alten Herrn zuckte kaum merklich. Er machte sich nicht die Mühe, den „Commissaire“ zu verbessern.
„Madame Winshaw, könnten Sie Ihren Ehemann und mich einen Moment allein lassen?“
Der Blick der Frau wurde hart, und sie öffnete ihre Lippen einen Spaltbreit.
„Hören Sie, Commissaire, ich …“
„Christine, bitte“, sagte Winshaw.
Servaz sah, wie die Frau zusammenzuckte. Ganz offensichtlich war sie es nicht gewohnt, dass ihr Mann die Dinge in die Hand nahm. Die Stimme von Oliver Winshaw hatte plötzlich etwas Schwung bekommen: Es hatte ihm gefallen, dass seine Frau in den Senkel gestellt wurde – und die Aussicht, sich von Mann zu Mann zu unterhalten, schien ihm ebenfalls zu behagen. Servaz warf einen Blick zu seinen beiden Mitarbeitern und winkte sie ebenfalls hinaus.
„Ich weiß nicht, ob Sie im Dienst dürfen, aber ich werde mir einen Scotch genehmigen“, sagte der alte Herr fröhlich, als sie allein waren.
„Wenn Sie es nicht weitererzählen“, meinte Servaz lächelnd. „Ohne Eis, danke.“
Winshaw lächelte ihn mit vom Tee vergilbten Zähnen an. Er hatte sanfte, verschlagene Augen und schütteres langes Greisenhaar. Servaz stand auf und trat an die Bücherwand. Das verlorene Paradies, Die Ballade vom alten Seemann, Hyperion, Die Jagd nach dem Snark, Das wüste Land … Meterweise englische Dichtung …
„Interessieren Sie sich für Gedichte, Commandant?“
Servaz nahm das Glas, das er ihm hinhielt. Der erste Schluck brannte wie Feuer in der Kehle. Er war gut und schmeckte stark nach Rauch.
„Nur für
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