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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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allmählich etwas mulmig zumute. Wohin fuhr Van Acker? Er mied die Hauptverkehrsachsen und nahm lauter – vor allem um diese Uhrzeit - kaum befahrene Nebenstrecken.
    Die nächste Kreuzung lag mitten auf einer ausgedehnten, unbewohnten Hochebene mit Heidekraut und Gehölzen, die vom Mondschein fast taghell beleuchtet wurde. Ein Schild verwies auf die „Gorges de la Soule“. Vergeblich hielt er nach dem Spider Ausschau. Mist! Servaz stellte den Motor ab und stieg aus. Die Stille hatte in seinen Ohren eine ganz besondere Qualität. Es regte sich kein Lüftchen, und die Nacht war erstaunlich warm. Er lauschte. Ein Motorgeräusch … links … Wieder lauschte er und hörte die unregelmäßigen Motorengeräusche und das ferne Knirschen der Reifen in einer Kurve. Er setzte sich wieder ans Steuer, wendete den Jeep in einem weiten Bogen und fuhr Richtung Schlucht.
    Er erreichte sie fünf Minuten später. Bremste und stellte den Cherokee am Rand der Straße ab. Am helllichten Tag war die Schlucht ein üppig bewachsener grüner Kessel; nur an ein paar hohen Kreidefelsen ließ der Wald einige Sonnenstrahlen durchdringen. Darunter führte ein Fluss entlang. Er war breit und strömte gemächlich dahin. Am Wegrand gab es auch einige nicht besonders tiefe Höhlen, die sonntags Ausflügler besuchten, wenn sie nichts anderes zu tun hatten. Servaz war in seiner Jugend mit Francis, Marianne und den anderen mehr als einmal hier gewesen.
    Eine Ahnung sagte ihm, dass hier vielleicht Van Ackers Ziel war. Francis hatte von jeher einen Sinn für düstere Romantik gehabt, und diese Landschaft passte gut zu ihm. Sie hatte etwas von den Gemälden von Caspar David Friedrich. Wenn Francis irgendwo in der Schlucht parkte und Servaz jetzt hineinfuhr, würde sein Freund ihn mit Sicherheit entdecken. Um diese Uhrzeit nahm niemand diese selbst bei Tag kaum befahrene Straße. Francis würde ihn vorbeifahren sehen, und dann wäre ihm klar, dass Martin ihm folgte und ihn verdächtigte. Und wenn Van Acker weitergefahren war, hatte er ihn sowieso verloren – aber dagegen wäre er jede Wette eingegangen.
    Zwei Meter hinter seiner Stoßstange begann ein Waldweg. Sehr langsam stieß er rückwärts hinein, bis das Fahrzeug von der Straße aus nicht mehr zu sehen war, falls Francis denselben Weg zurückfuhr. Er machte die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und stieg aus. Kein Geräusch. Abgesehen von dem Plätschern des Flusses jenseits der Straße war alles ruhig. Leise machte er die Wagentür zu. Lauschte. Irgendwo schrie ein Vogel. Sonst nichts. Er versuchte die Lage zu analysieren. Er hatte keine große Wahl, ihm blieb nichts anderes übrig, als in die Schlucht hinabzusteigen. Vielleicht war Van Acker ja schon über alle Berge, und er trieb hier in der völligen Einöde mutterseelenallein ein lächerliches Spiel. Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es aus. Dann ging er los, die dunkle Straße entlang, über ihm der Sternenhimmel.
    Während er über den Asphalt schritt, fragte er sich, was er über den Van Acker von heute wusste. Was hatte er all diese Jahre getrieben? Ihre Lebenswege waren sehr unterschiedlich verlaufen … Eigentlich war Francis schon immer geheimnisvoll, ja undurchsichtig. Kann man den zum besten Freund haben, von dem man am wenigsten weiß? Zwei Menschen, die einander so nahe und doch so verschieden sind. Wir verändern uns. Wir alle. Unaufhaltsam. Ein Teil von uns bleibt der alte: der Kern, das reine Herz, das aus der Kindheit stammt, aber ringsherum lagern sich so viele Sedimente ab. Bis sie das Kind, das wir waren, verunstalten, bis sie aus dem Erwachsenen ein so anderes, ein so abscheuliches Wesen machen, dass das Kind diesen Erwachsenen nicht wiedererkennen würde – und die Vorstellung, zu dieser Person zu werden, würde ihn wahrscheinlich zutiefst verstören.
    Immer weiter drang er in die Schlucht vor. Mittlerweile übertönte das Rauschen des Flusses alle anderen Geräusche. Die Straße schlängelte sich in weiten Bogen dahin, denen er immer schneller folgte. Vergeblich versuchte er, das Dickicht am Wegesrand mit den Augen zu durchdringen. Hier, am Grund der Schlucht, herrschte fast völlige Finsternis. Noch immer kein Geräusch … Wo steckte er? Noch ein paar Meter weiter sah er ihn schließlich. Zwischen den Bäumen und dem Dickicht. Hinter der nächsten Kurve. Ein Stück von der Karosserie und ein Scheinwerfer: der rote Spider … Er blieb stehen, beugte sich leicht vor. Da waren noch zwei

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