Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
nicht, dass der Schweizer ein solches Risiko einging. Die Freiheit war für ihn jetzt viel zu wertvoll – viereinhalb Jahre lang war er in psychiatrischen Kliniken eingesperrt gewesen, hatte keinen Besuch empfangen und keine Spaziergänge machen dürfen – abgesehen von seinen Psychiatern und Pflegern hatte er keinen Kontakt zu Menschen gehabt.
Servaz fuhr nach Marsac hinein, durchquerte die schlafende Stadt und steuerte auf den See zu. Er fuhr am „Zik“ vorbei, dem auf Pfählen errichteten Livemusik-Restaurant. Es war viel los dort, und durch die heruntergelassene Scheibe hörte er Fetzen von Musik. Er fuhr um das Ostufer herum und auf das Nordufer. Mariannes Haus war das letzte in der Reihe. Er bremste ab, als er sich dem Tor näherte.
Im Erdgeschoss brannte Licht.
Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er hatte unglaublich starkes Verlangen nach ihr, sehnte sich danach, sie zu küssen und an sich zu drücken. Ihre Stimme zu hören. Ihr Lachen. Mit ihr zusammen zu sein …
Dann der Schock, wie ein Stromschlag.
Auf dem Kiesweg stand ein Auto. Unter den Tannen. Es war nicht Mariannes. Ein roter Alfa Romeo Spider. Eine Welle der Traurigkeit brach über ihn herein, und ein weiteres Mal spürte er den stechenden Schmerz des Verrats. Dann beschloss er, sie nicht vorschnell und ohne eindeutige Beweise zu verurteilen. Er ärgerte sich über seine negativen Gedanken. Er beschloss zu warten, bis Francis gegangen war, und anschließend an ihrer Tür zu klingeln. Es gab mit Sicherheit eine Erklärung. Es konnte gar nicht anders sein.
Er fuhr ein Stück weiter und parkte im Schatten der Bäume, am Rand des Anwesens, dort, wo die Straße eine Kurve um den Wald machte, ehe sie Richtung Norden in die Heide führte. Er nahm sich eine Zigarette und legte eine CD mit Mahler-Musik auf. Als sie zu Ende war, verzichtete er auf weitere Musik. Sein Mund schmeckte nach Galle. Das Gift des Zweifels entfaltete seine zersetzende Wirkung. Er dachte an den Kondomvorrat im Badezimmer. Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Eine zweite Stunde verging. Als der rote Spider aus dem Garten herausschoss und die Reifen auf dem Asphalt quietschen ließ, spürte Servaz, wie ein eiskalter Schauer seinen ganzen Körper durchrieselte.
Die Mondscheibe dort oben war eine traurige Frau, die einzige, die ihn nie verraten würde.
Es war drei Uhr morgens.
Donnerstag
33
Charlène
Er war zwanzig, hatte langes braunes Haar, das oben glatt, an den Spitzen und auf den Schultern gelockt war. Ein großer Hemdkragen vom Typ Tortenheber. Er hielt eine halb heruntergebrannte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, den Daumen am Filter und die beiden anderen Finger angewinkelt. Er starrte mit einem direkten, intensiven, leicht zynischen Blick in die Kamera, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen.
Das Foto hatte Marianne gemacht. Noch heute fragte er sich, warum er es behalten hatte. Zwei Tage danach hatte sie ihn verlassen.
Ihre Stimme hatte gezittert. Er hatte die Tränen in ihren Augen gesehen, so, als wäre sie die Verlassene.
„Warum?“
„Ich liebe einen anderen.“
Der schlimmste aller Gründe …
Er hatte nichts gesagt. Er hatte sie mit dem gleichen Blick angesehen wie auf dem Foto (zumindest nahm er das an).
„Verschwinde.“
„Martin, ich …“
„Verschwinde.“
Sie war ohne ein weiteres Wort gegangen. Erst später hatte er erfahren, um wen es sich handelte. Doppelter Verrat … Monatelang hatte er gehofft, dass sie zurückkam. Und dann hatte er Alexandra kennengelernt. Er legte das Foto wieder dahin zurück, wo er es gefunden hatte, in einer Schublade. Heute Morgen nach dem Aufwachen hatte er es zerreißen und wegwerfen wollen, aber er ließ es sein. Er war erschöpft. Mit den Nerven am Ende. Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen – einen unruhigen Schlaf voller Albträume, Schweißausbrüche und Kälteschauer.
Hirtmann, Marsac, und jetzt das … Er kam sich vor wie ein Gummiband, an dem man zog, um sein Dehnungsgrenze zu testen. Er spürte, dass der Punkt, an dem das Band reißen würde, nicht mehr fern war. Er trat auf den Balkon hinaus. Neun Uhr morgens. Am Himmel braute sich wieder ein Gewitter zusammen. Ein Riegel schwarzer Wolken näherte sich von Westen der noch strahlenden Sonne. Gleichzeitig mit dem ohrenbetäubenden Lärm von Motoren und Hupen stiegen Hitzewellen von der Stadt auf. Eine elektrische Spannung lag in der Luft, Mauersegler zogen mit gellenden Schreien ihre Kreise.
Er zog sich an und verließ
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