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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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seine Wohnung. Sein Haar war zerzaust, er war schlecht rasiert, das Gesicht trug die Male seines nächtlichen Ausflugs und war seit über 24 Stunden ungewaschen, aber es war ihm egal. Es tat ihm wohl, in dem Gewitterlicht durch die Straßen zu gehen. Er setzte sich auf eine Caféterrasse an der Place Wilson und bestellte einen sehr starken Kaffee mit viel Zucker. Zucker gegen die Bitterkeit …
    Er fragte sich, mit wem er sprechen, wen er um Rat fragen könnte. Ihm wurde bewusst, dass es nur eine einzige Person gab. Er sah ein schönes Gesicht, langes rotes Haar, einen langen Nacken, einen Körper und ein Lächeln zum Umwerfen …
    Er trank seinen Kaffee, während er darauf wartete, dass die Geschäfte öffneten.
    Dann nahm er die Rue Lapeyrouse, ging durch die ewige Baustelle an der Rue d´Alsace-Lorraine mit ihren ruhenden Straßenwalzen und bog in die Rue de la Pomme ein. Er wusste, dass die Galerie um 10 Uhr öffnete … Es war 9.50 Uhr. Die Tür war bereits offen, die Galerie menschenleer und still. Er zögerte.
    Seine Sohlen quietschten auf dem hellen Parkettboden. Aus kleinen Lautsprechern säuselte leise Musik. Jazz … Sein Blick hielt sich nicht an den modernen Gemälden auf, die an den Wandleisten befestigt waren. Er hörte Absätze klappern und eine Stimme im ersten Stock, ging in den hinteren Teil der Galerie und stieg die eiserne Wendeltreppe hinauf.
    Sie war da. Stand hinter ihrem Schreibtisch und telefonierte. Gleich neben dem großen Rundbogenfenster.
    Sie blickte auf und sah ihn. Sie sagte:
    „Ich rufe zurück.“
    Charlène Espérandieu trug an diesem Morgen ein weißes T-Shirt, das eine Schulter frei ließ, und eine schwarze Pluderhose. In Höhe der Brust war aus glänzenden Pailletten das Wort „ART“ eingestickt. Ihr rotes Haar leuchtete im Morgenlicht, obwohl die Sonne noch nicht die Straße erhellte, sondern nur die oberen Stockwerke der rosa Ziegelfassade hinter dem Fenster.
    Sie war verteufelt schön, und einen Augenblick lang sagte er sich, dass sie die Frau sein könnte, die er suchte, die Frau, die ihn trösten und ihn alle anderen vergessen lassen würde. Die Frau, auf die er sich stützen könnte. Aber nein, natürlich nein. Sie war die Frau seines Mitarbeiters. Sie faszinierte ihn nicht mehr so wie vor zwei Jahren. Er bekam kein Herzklopfen mehr, wenn er an sie dachte. Trotz ihrer Schönheit – sie war irgendwie weit weg, ein angenehmer Gedanke zwar, aber ohne Substanz, ohne Schmerz und Leidenschaft …
    „Martin? Was führt dich hierher?“
    „Ich hätte Lust auf einen Kaffee“, sagte er.
    Sie kam um den Schreibtisch und küsste ihn auf die Wangen. Sie roch angenehm nach Shampoo und Zitrone wie ein Luftzug, der durch einen Zitrusgarten strich.
    „Meine Kaffeemaschine ist kaputt. Ich brauch aber auch einen. Komm. Du siehst schlecht aus.“
    „Ich weiß, und ich bräuchte auch eine Dusche.“
    Sie überquerten die Place du Capitole in Richtung der Terrassen unter den Arkaden. Er ging in Begleitung einer der schönsten Frauen von Toulouse, er sah aus wie ein Penner, und er dachte an eine andere …
    „Warum hast du nie auf meine SMS und meine Anrufe geantwortet?“, fragte sie, nachdem sie an ihrem Kaffee genippt hatte.
    „Das weißt du genau.“
    „Nein. Ich hätte gern, dass du es mir erklärst.“
    Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich geirrt hatte: Er konnte ihr nicht von Marianne erzählen, er hatte nicht das Recht dazu. Er wusste, dass es sie verletzen würde. Dass sie sensibel war. Vielleicht war das ja unbewusst genau seine Absicht: Jemanden zu verletzen, so wie er selbst verletzt worden war.
    Aber er würde es nicht tun.
    „Ich habe eine E-Mail von Julian Hirtmann bekommen“, sagte er.
    „Ich weiß. Vincent hielt sie für eine der vielen Fälschungen, die überall kursieren, er meinte, du machst dir grundlos Sorgen. Bis du an einem Baumstamm diese eingeritzten Buchstaben entdeckt hast … Seither weiß er nicht mehr, was er denken soll.“
    „Weißt du von den Briefen?“
    Sie sah ihn aus ihren grünen Augen an.
    „Ja.“
    „Und du weißt, wo …?“
    „Wo du sie gefunden hast? Hmm, hmm, Vincent hat es mir gesagt.“
    „Hat er dir auch gesagt, unter welchen Umständen?“
    Sie nickte.
    „Charlène, ich …“
    „Sag nichts, Martin. Das ist nicht nötig.“
    „Er hat dir also gesagt, dass es jemand ist, zu dem ich früher einmal näheren Kontakt hatte?“
    „Nein.“
    „Jemand, den ich …“
    „Sei still. Du schuldest mir keine

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