Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Dusche im Knast?“
Servaz sah, wie sich das Gesicht des Mannes verwandelte. Er sah, wie sein Blick schwarz wurde wie eine Öllache, seine Augen matt. Trotz der Hitze, die in dem Zimmer herrschte, hatte er das Gefühl, dass ein eiskalter dünner Wasserfaden sein Rückgrat hinunterkroch. Sein Puls schlug schneller. Er schluckte. Er war dieser Art von Blick bereits begegnet, vor sehr langer Zeit. Er war zehn Jahre alt … Der kleine Junge in ihm konnte nicht vergessen. Einmal mehr dachte er an die Männer, die an einem Juliabend im Innenhof ihres Hauses aufgekreuzt waren. Zwei waren es. Zwei Männer wie dieser Typ, Wölfe, Verdammte mit leeren Blicken … Er dachte an seine Mutter, die geschrien und gefleht hatte, an seinen Vater, der an einen Stuhl gefesselt gewesen war. Er dachte an ihre raubgierigen Hände und Arme, die sie umklammerten und vergewaltigten … Und an den kleinen Martin, der in den Wandschrank unter der Treppe eingesperrt war und alles hörte, alles erriet – an die vielen ähnlichen Typen, denen er seit seinem Eintritt in die Polizei über den Weg gelaufen war. Und plötzlich brauchte er dringend frische Luft, wollte er unbedingt raus aus diesem Zimmer, diesem Krankenhaus. Er lief in Richtung Toilette zu laufen, bevor die Übelkeit ihn überwältigte.
„Er war es nicht.“
Servaz nickte. Sie gingen durch die Gänge zurück Richtung Eingangshalle. Er hatte wahnsinnige Lust auf eine Zigarette, aber die allgegenwärtigen Verbotsschilder riefen ihn zur Vernunft.
„Ich weiß“, sagte er. „Er hat ein wasserdichtes Alibi, und ich weiß nicht, wie er es angestellt haben soll, Claire Diemars E-Mails in der Schule zu löschen, und warum er Hugo verfolgt und unter Drogen gesetzt haben sollte.“
„Dieser Typ sollte nicht frei herumlaufen“, sagte Samira, als sie an der Cafeteria vorbeigingen.
„Kein Gesetz erlaubt es, jemanden einzusperren, weil er ‚gefährlich‘ ist“, bemerkte er.
„Früher oder später wird er eh rückfällig.“
„Er hat seine Strafe abgesessen.“
Samira schüttelte den Kopf, als sie die Halle durchquerten.
„Die einzige wirksame Therapie für solche Typen ist, ihnen die Eier abzuschneiden“, verfügte sie.
Servaz musterte seine Mitarbeiterin. Ganz offensichtlich meinte sie es ernst. Mit Erleichterung sah er die Glastüren näher kommen, er steckte die Hand in seine Tasche, aber auf der anderen Seite hing ein letztes Rauchverbotsschild – und er fühlte sich wieder wie der Jugendliche, der sich mit brennenden Lungen über eine Leichtathletikbahn schleppte und die letzten zwanzig Meter wirklich kaum mehr schaffte.
Endlich glitten die Türen auf. Hitze und Feuchtigkeit schlugen ihnen entgegen. Er verkrampfte sich. Seine nikotingierigen Lungen verlangten nach ihrem Gift, aber da war noch etwas anderes … Was? Seit kurzem, seit er das erste Verbotsschild gesehen hatte, arbeitete es in ihm – aber er konnte nicht sagen, was genau es war.
„Wenn er es nicht war, müssen wir wieder ganz von vorn anfangen“, bemerkte Samira.
„Das heißt?“
„Hugo …“
Servaz sah auf seine Uhr, während er eine Zigarette herauszog.
„Wir kehren zum Ausgangspunkt zurück. Du machst der Abteilung für digitale Spurensicherung Beine. Ich will bis heute Abend ein Ergebnis haben. Wenn Hugo es war, dann erklär mir bitte, weshalb er die Daten auf Claires Rechner, nicht aber die Verbindungsdaten auf seinem eigenen Handy gelöscht hat?“
Sie hob die Hände zum Zeichen ihrer Unwissenheit und sah ihm nach, wie er den Grünstreifen Richtung Fußgängerbrücke überquerte. Mit heulender Sirene traf ein Rettungswagen ein, blieb vor der Schranke stehen und wartete, bis sie aufging.
Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er begriff, warum seine Gedanken seit einiger Zeit ständig um die Schilder kreisten.
Während er über die große Fußgängerbrücke ging, zog er sein Handy heraus, suchte die Nummer von Margot und drückte auf die Anruftaste. Eine barbarische Musik – ein E-Gitarren-Sound, begleitet von kehligem Gekrächze – ließ ihn das Gesicht verziehen. Einerseits freute es ihn, dass Margot während des Unterrichts ihr Handy ausschaltete, andererseits kam es ihm jetzt ungelegen. Mit einem Finger tippte er eine SMS:
Raucht Hugo? Ruf mich an. Wichtig.
Er hatte die SMS kaum abgeschickt, als sein Telefon vibrierte.
„Margot?“
„Nein, hier spricht Nadia“, antwortete eine weibliche Stimme.
Nadia Berrada leitete die Abteilung für digitale Spurensicherung. Er drückte
Weitere Kostenlose Bücher