Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
den Aufzugsknopf.
„Die Rechner haben ‚gesungen‘“, sagte sie.
Er unterbrach seine Geste.
„Und?“
„Die Mailboxen wurden tatsächlich gelöscht. Wir haben die empfangenen und gesendeten E-Mails wiederhergestellt. Die letzte stammt von ihrem Todestag. Das Übliche. E-Mails, die an Kollegen adressiert waren, private Mails, Terminmitteilungen für Schulkonferenzen oder Seminare, Werbung.“
„Mails an Hugo Bokhanowsky oder von ihm?“
„Nein, nichts … Dagegen taucht regelmäßig ein Gesprächspartner auf. ‚Thomas999‘. Und die beiden wirken … wie soll ich sagen? … eher intim miteinander.“
„ Intim in welchem Sinne?“
„Ich lese mal vor, was sie sich so schreiben: ‚Das Leben wird in Zukunft viel aufregender sein, weil wir uns lieben‘, ‚Riesig. Total. Unglaublich. So sehr fehlst du mir ‘, ‚Ich bin das Schloss und du der Schlüssel, ich bin für immer dein, dein Eichhörnchen, für jetzt und für alle Zeit‘ …“
„Wer hat das geschrieben, sie oder er?“
„Beide. Wobei drei Viertel von ihr stammen … Er drückt sich nicht ganz so schwärmerisch aus, war aber trotzdem ziemlich entflammt. Mann, diese Frau hat vor Leidenschaft geglüht!“
Dem Tonfall ihrer Stimme entnahm er, dass Nadia das, was sie auf der Mailbox gefunden hatte, nachdenklich stimmte. Er erinnerte sich an Marianne und ihn … Damals gab es weder E-Mails noch SMS, aber sie hatten Hunderte von Briefen dieser Art ausgetauscht. Überschwängliche, lyrische, naive, leidenschaftliche, witzige Briefe. Obwohl sie sich fast täglich sahen. Auch sie hatten diese Intensität, diese Inbrunst gekannt. Er war auf etwas gestoßen – das spürte er. Diese Frau glühte vor Leidenschaft … Nadia hatte die richtigen Worte gefunden. Er betrachtete die Wipfel der Bäume, die unterhalb der Fußgängerbrücke im Regen schwankten.
„Sag Vincent, er soll unverzüglich einen Identifizierungsanfrage stellen“, sagte er. „Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, wer dieser Thomas999 ist.“
„Ist schon erledigt. Wir warten auf die Antwort.“
„Ausgezeichnet. Halt mich auf dem Laufenden, sobald du etwas hast. Und, Nadia, würdest du bitte einen Blick auf die Liste der Beweisstücke werfen?“
„Was willst du wissen?“
„Ob unter den Gegenständen, die in den Taschen des Jungen gefunden wurden, eine Schachtel Zigaretten war.“
Er wartete. Die Aufzugstüren öffneten sich, aber er stieg nicht ein, falls die Metallwände das Signal blockierten . Nach vier Minuten meldete sich Nadia wieder.
„Weder Zigarettenschachtel noch Joint“, sagte sie. „Nichts dergleichen. Hilft dir das?“
„Vielleicht. Danke.“
Als er sich vorstellte, wie Nadia den Haufen an Beweisstücken durchstöberte, kam ihm ein Gedanke. Das Heft, das er auf Claires Schreibtisch gefunden hatte, und der Satz, der darin stand:
Freund ist manchmal ein sinnleeres Wort, Feind niemals.
Er spürte eine Art Kribbeln am Steißbein. Claire Diemar hatte diesen Satz kurz vor ihrem Tod in ein ganz neues Heft geschrieben, und sie hatte es offen auf ihrem Schreibtisch liegen gelassen. Wusste sie von einer drohenden Gefahr? Hatte sie sich jemanden zum Feind gemacht? Hatte dieser Satz überhaupt etwas mit den Ermittlungen zu tun? Der Gedanke wurde deutlicher. Wieder nahm er sein Handy.
„Sitzt du gerade vor deinem Rechner?“, fragte er Espérandieu.
„Ja, warum?“, fragte sein Mitarbeiter.
„Könntest du einen Satz googlen?“
„Einen Satz googlen?“
„Genau.“
„Eine Art Zitat?“
„Hm.“
„Warte … okay, bin soweit, leg los, ich höre.“
Servaz sagte ihm den Satz noch einmal.
„Was ist das? Ist das für ein Fernsehquiz?“, scherzte sein Mitarbeiter. „Sag mal, bist du nicht der Philologie hier?“
„Raus damit!“
„Victor Hugo.“
„Was?“
„Das ist ein Zitat von Victor Hugo. Kannst du mir das erklären?“
„Später.“
Er klappte sein Handy wieder zu. Victor Hugo … Konnte das ein Zufall sein? Claire Diemar hatte sonst nichts in dieses Heft geschrieben, und sie hat es an gut sichtbarer Stelle hingelegt. Sie sprach hier von einem Feind … Hugo? Servaz vergaß nicht, dass sich um Marsac ging, eine Universitätsstadt, wie Francis betont hatte; er hatte sie gar mit dem Hamletschen Königshof in Helsingör verglichen, wo man Sinn für Diskretion, aber auch Lust an übler Nachrede hatte, wo man Gegner erdolchte, aber mit Eleganz und Raffinement – wogegen jede direkte Beschuldigung als absolut unverzeihliche
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