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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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und die Jagd wieder aufzunehmen …
     
    Servaz verbrachte den Rest des Sonntags damit, ein wenig aufzuräumen, Mahler zu hören und nachzudenken. Gegen 17 Uhr läutete das Telefon. Es war Espérandieu. Er hatte Bereitschaftsdienst. Ermittlungsrichter Sartet und der Haftrichter hatten beschlossen, Anklage gegen Hugo zu erheben und Untersuchungshaft anzuordnen. Servaz´ Stimmung sank augenblicklich. Er war sich nicht sicher, ob der junge Mann diese Erfahrung schadlos überstehen würde. Es war ein Schritt auf die Rückseite des Spiegels, und da bekäme er einen flüchtigen Blick auf das, was sich hinter dem hübschen Schaufenster unserer demokratischen Gesellschaften verbarg; Servaz hoffte nur, dass Hugo noch jung genug war, um zu vergessen, was er dort sehen würde.
    Er dachte wieder an den Satz in Claires Heft. Es war irgendwie seltsam, dass dieser Satz einfach so dort stand. Es war einerseits zu auffällig, andererseits zu subtil. An wen richtete er sich?
    „Bist du noch dran?“, fragte er.
    „Ja“, antwortete Vincent.
    „Sieh zu, wie du an eine Schriftprobe von Claire kommst. Ein Graphologe soll sie mit dem Satz in ihrem Heft vergleichen.“
    „Dem Zitat von Victor Hugo?“
    „Ja.“
    Er trat auf den Balkon hinaus. Die Luft war noch genauso drückend, und der von Gewitterwolken verhangene Himmel lastete schon wieder wie eine dunkle Steinplatte auf der Stadt. Der Donner war nur noch ein fernes, dumpfes Echo, die Zeit schien stillzustehen. Die Luft war elektrisch aufgeladen. Er dachte an einen anonymen Lustmörder, der sich durch eine Menschenmenge bewegt, an Hirtmanns Opfer, die nie gefunden wurden, an die Mörder seiner Mutter, an die Kriege und Revolutionen und an eine Welt, die Raubbau an all ihren Ressourcen trieb, einschließlich Heil und Erlösung.
     
    „Letzte Nacht in Santorin“, sagte Zuzka und hob ihr Glas mit Margarita.
    Direkt vor ihrem Tisch fielen die bläulich-weißen Terrassen schwindelerregend zum Rand der Felswand ab, ein Hohn für die Gesetze der Architektur und die Erdbebengefahr. Tief unten versank die Caldera langsam in der Nacht, und die Vulkaninsel in ihrer Mitte war nur noch ein schwarzer Schatten. Das Kreuzfahrtschiff, das noch immer in der Bucht vor Anker lag, funkelte wie ein Weihnachtsbaum.
    Ein salziger Seewind zerzauste Zuzka das schwarze Haar. Im Schein der Kerzen schimmerten ihre von einem lila Kreis umsäumten Augen hellblau. Sie trug ein blassblaues Top mit Pailletten am Ausschnitt, Denim-Shorts, einen Ledergürtel und voll behängtes Charms-Armband am rechten Handgelenk. Irène konnte sich nicht satt daran sehen.
    „ Cheers to the World“ , prostete sie ihr zu.
    Dann beugte sie sich über den Tisch und knutschte die Gendarmin unter den interessierten Blicken ihrer Nachbarn ab. Ihre Zunge schmeckte in Irènes Mund nach Tequila, Orange und Limone. Acht Sekunden, nicht weniger. Vereinzelte hörte man Beifall.
    „Ich liebe dich“, erklärte Zuzka etwas zu laut.
    „Ich dich auch“, antwortete Irène mit heißen Wangen.
    Die Überschwänglichkeit war ihr fremd. Sie besaß ein Motorrad vom Typ Suzuki GSR600, einen Hubschrauberpilotenschein, eine Knarre, und sie liebte Tempo, Tauchen und Motorsport, aber neben Zuzka wirkte sie schüchtern und unbeholfen.
    „Lass dir von diese Macho-Idioten nichts einreden, okay?“
    „Darauf kannst du dich verlassen!“
    „Und ich will, dass du mich jeden Abend anrufst.“
    „Zuzik …“
    „Versprich´s mir.“
    „Versprochen.“
    „Beim kleinsten Anzeichen von … Depresia kreuz ich bei dir auf“, verkündete die Slowakin drohend.
    „Zuzik, ich habe eine Dienstwohnung … mit lauter Gendarmen als Nachbarn …“
    „Na und?“
    „Die sind so was nicht gewohnt.“
    „Dann klebe ich mir eben einen Schnurrbart an, wenn es daran liegt. Wir werden uns doch nicht unser ganzes Leben verstecken. Du solltest den Beruf wechseln, weißt du das?“
    „Darüber haben wir schon geredet … Ich liebe meinen Beruf.“
    Unter ihrer Terrasse füllten sich die Gassen zusehends mit einer kompakten Menge von Touristen und Nachtschwärmern.
    „Vielleicht. Aber er liebt dich nicht. Wie wär´s mit einem kleinen Strandspaziergang in unserer letzten griechischen Nacht?“
    Ziegler nickte abwesend. Der Urlaub war vorbei. Zurück nach Südwest-Frankreich. Sie liebte ihren Beruf: wirklich? So vieles hatte sich seit diesem berüchtigten Winter verändert. Plötzlich sah sie sich im Geist achtzehn Monate zurückversetzt, in den Moment, in dem sie von

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