Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
der Lawine mitgerissen worden war und Martin einen verzweifelten Blick zuwarf, ehe sie ihn aus den Augen verlor, dort oben, im Gebirge. Zum hundertsten Mal dachte sie an die tief verschneite psychiatrische Klinik, an ihre langen Gänge und elektronischen Schlösser, an den lächelnden, bleichen geheimnisvollen Mann, der dort eingesperrt war – und an die Musik von Gustav Mahler …
Das Telefon weckte ihn. Bei geöffneter Fenstertür war er auf dem Sofa eingenickt. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, er sei vom Prasseln des Regens aufgewacht. Dann klingelte es wieder. Er setzte sich auf und reckte den Arm nach dem Handy, das neben einem Glas mit einem Rest Glenmorangie summte wie ein bedrohliches Insekt.
„Servaz.“
„Martin? Ich bin´s … hab ich dich geweckt?“
Marianne … Sie klang erschöpft – wie eine, die mit den Nerven am Ende war und außerdem getrunken hatte.
„Sie haben Hugo in Untersuchungshaft genommen. Wusstest du das?“
„Ja.“
„ Verdammt, warum hast du mich dann nicht angerufen?“
In diesem Satz lag mehr als nur Ärger. Es war echte Wut.
„Ich hatte es vor, Marianne … ich schwör´s dir … und dann hab … hab ich´s vergessen …“
„ Vergessen? Verdammt, Martin, mein Sohn kommt ins Gefängnis und du vergisst, mir Bescheid zu sagen!“
Das stimmte nicht ganz. Er hatte sie anrufen wollen, aber er hatte sich lange nicht aufraffen können. Dann war er schließlich vor Erschöpfung eingeschlafen.
„Hör zu, Marianne, ich … ich glaube nicht, dass er es war … ich … du musst mir vertrauen, ich werde den Täter finden.“
„Dir vertrauen? Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht … Ich bin völlig durcheinander, ich werde noch verrückt. Ich stelle mir vor, wie Hugo die Nacht allein in diesem Gefängnis verbringt, und das macht mich wahnsinnig. Und du … du vergisst, mich anzurufen, du sagst mir nichts, du tust so, als wäre nichts gewesen – und du lässt es zu, dass der Richter meinen Sohn in den Knast steckt, und gleichzeitig sagst du mir, du hältst ihn für unschuldig! Und da soll ich dir vertrauen?“
Er wollte etwas sagen, sich verteidigen. Aber er wusste, dass das ein Fehler wäre. Nicht jetzt. Es gab eine Zeit für Diskussionen, für Rechtfertigungen – und eine Zeit fürs Schweigen. Früher hatte er diesen Fehler gemacht: sich um jeden Preis rechtfertigen wollen, seinen Standpunkt durchsetzen, koste es, was es wolle, immer das letzte Wort haben. Das funktionierte nicht. Nie funktionierte das. Er hatte dazugelernt … Er sagte nichts.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Schönen Abend noch, Martin.“
Sie legte auf.
Montag
19
Schwindel
Am Montagmorgen hatte Servaz einen Termin im Leichenschauhaus, wo ihm die Ergebnisse der Obduktion mitgeteilt werden sollten. Milchglasscheiben. Geruch nach Reinigungsmitteln. Hallende lange Gänge. Kühle. Hinter einer Tür ertönte schallendes Gelächter, dann war es still, und als er ins Untergeschoss hinabstieg, war er wieder mit sich allein.
In seiner Erinnerung tanzte und lief ein kleiner Junge um seine Mutter herum. Tanzte und lachte in der strahlenden Sonne. Auch seine Mutter tanzte.
Er verjagte die Erinnerung. Trat durch die Pendeltür.
„Guten Tag, Commandant“, begrüßte ihn Delmas.
Servaz warf einen Blick auf den großen, höhenverstellbaren Seziertisch, auf dem sie lag. Er sah das hübsche Profil von Claire Diemar. Aber dann fiel sein Blick auf ihre glatt aufgesägte Schädelkalotte und die graue Masse ihres Gehirns, die im Licht der Neonröhren glänzte. Auch ihr Rumpf war Y-förmig aufgeschlitzt, und an der Bauchhöhle quollen die rosa Eingeweide heraus. Auf einer Arbeitsplatte lagen luftdicht verschlossene Röhrchen mit Gewebeproben.
Servaz dachte an seine Mutter.
Sie hatte genauso dagelegen – entblößt und ausgeweidet auf einem Seziertisch. Er wandte den Blick ab.
„Gut“, sagte der kleine Mann mit dem rosigen Teint und den blassblauen Augen, „Sie wollen wissen, ob sie in ihrer Badewanne gestorben ist? Nun, um es gleich vorwegzunehmen, es ist für uns Rechtsmediziner sehr schwierig, den Tod durch Ertrinken zweifelsfrei nachzuweisen. Und wenn es sich um eine Badewanne handelt, ist es noch heikler.“
Servaz war ihm einen fragenden Blick zu.
„Sogenannte Diatomeen oder Kieselalgen“, erklärte Delmas, „leben in großer Zahl in Flüssen, Seen und Meeren … Wenn ein Mensch Wasser einatmet, verteilen sie sich im gesamten Organismus. Bis
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