Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
dem Platz stehen … Plötzlich drehte sich Hugo nach rechts um und verschwand … Mist! Mitten auf dem Parkplatz stand eine betonierte Trafostation, und Hugo hatte sein Auto dahinter abgestellt! Servaz fluchte noch einmal, und er wollte gerade mit der Faust auf den Tisch schlagen, als im Hintergrund die Tür des Pubs aufging …
Oh Scheiße!
Er hatte richtig gesehen. Er öffnete den Mund, die Augen auf den Bildschirm geheftet. Er hatte eine Chance. Eine ganz kleine. Eine winzige. Komm näher ran … Die Gestalt bog in die Gasse zwischen den geparkten Wagen ein und bewegte sich auf die Kamera zu, noch immer in der gleichen, durch die Abfolge der Standbilder leicht zerhackten Gehweise. Sie steuerte die Stelle an, wo Hugo geparkt hatte. Servaz bekam einen trockenen Mund. Der Unbekannte war hochgewachsen und schlank. Er trug einen Sweater, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. Mist! Plötzlich war sich Servaz klar, dass er sein Gesicht nicht sehen würde, und das machte ihn rasend. Aber etwas Positives hatte das Ganze immerhin: Diese Aufzeichnungen machten Hugos Einlassungen glaubwürdiger. Auch wenn sie keinen unumstößlichen Beweis lieferten. Die Gestalt mit der Kapuze verschwand ebenfalls hinter der Trafostation.
Und jetzt?
Er hatte noch eine Chance … Der Wagen würde zurückstoßen und irgendwann im Sichtfeld der Kamera auftauchen … Vielleicht würde er sehen, wer am Lenker saß. Servaz wartete mit zugeschnürter Kehle, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Zu lange. Das dauerte zu lange … Irgendetwas ging da vor.
Ein Geräusch.
Er richtete sich auf, als hätte man ihm einen Fußtritt verpasst. Er hatte ein Geräusch gehört – nicht draußen: in der Bank.
„IST DA JEMAND?“
Keine Antwort. Vielleicht hatte er geträumt. Der Sommerregen machte einen solchen Lärm, dass er nicht sicher war. Wieder ließ ein Donnerschlag die Abendluft erzittern. Er wollte sich auf den Bildschirm konzentrieren. Nein, er hatte wirklich etwas gehört … Er drückte die Pause-Taste und stand auf. Ging hinaus auf den Gang.
„He! Wer ist da?“
Seine Stimme hallte wider, getragen vom Echo der leeren Schalterhalle, die an dem einen Ende des Flurs lag. Am anderen Ende befand sich eine metallene Nottür mit Querriegel. Sie war geschlossen.
Er zögerte, ging schließlich Richtung Schalterhalle. Niemand. Die Schalter, die Reihen bunter Sessel, die weiße Abstandslinie … Die Halle war leer. Er machte kehrt.
Wenn da nicht … Jetzt spürte er ihn …
Einen leichten Durchzug.
Wahrscheinlich zwischen dem Fenster seines Kabuffs und … einer anderen Öffnung . Mitten in der Schalterhalle drehte er sich um und sah durch die Glastüren auf den verwaisten Platz. Die Türen waren abgeschlossen. Innen war es in den Ecken der Schalterhalle bereits dunkel. Dunkel und still. Servaz´ Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Er griff nach seiner Waffe an der Hüfte, öffnete das Holster. Eine Geste, die er seit vielen Monaten, genauer gesagt: seit dem Winter 2008-2009, nicht mehr gemacht hatte.
Seit Hirtmann …
Mist!
Er ging an den Schaltern entlang. Auf der anderen Seite lag ein zweiter Gang. Servaz bewegte sich jetzt mit bedächtigen Schritten, die Waffe fest in der Hand. Er hoffte, dass in diesem Moment niemand vor den Glastüren der Bank vorbeiging und ihn sah. Er war sich noch nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht einem Anfall von Paranoia erlag. Dennoch hielt er die Waffe so, wie es die Vorschriften verlangten, während er zugleich hoffte, sie nicht benutzen zu müssen. Der Schweiß lief ihm aus den Brauen in die Augen, und er blinzelte.
Der zweite Gang war kürzer als der erste. Es gab nur eine Tür. Die Toilette.
Er ging in die Knie und streckte die Hand zum Boden aus, bis zu dem etwa zwei Zentimeter breiten Spalt unter der Toilettentür.
Er spürte, wie es aus dem Spalt zog.
Er machte die Tür langsam auf, gegen den Widerstand des Türschließers. Es roch nach Industriereiniger. Plötzlich wurde der Durchzug stärker, und er war noch mehr auf der Hut. Die Tür zur Herrentoilette.
Sie stand offen.
Jemand hatte vergessen, dieses Fenster zu schließen, und da der Direktor die Alarmanlage nicht eingeschaltet hatte, war es auch niemandem aufgefallen. Er versuchte eine einfache Erklärung zu finden. Ockhams Rasiermesser. Dass jemand in die Bank eingedrungen sein sollte, um ihn hier anzugreifen, während dieselbe Person an jedem beliebigen Ort draußen und bei mehr als einer Gelegenheit das Gleiche hätte
Weitere Kostenlose Bücher