Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Gesicht. Da sein Mund offen stand, benetzte er auch seine Zunge.
Ein furchtbarer Schmerz am Hinterkopf, dort, wo sein Kopf auf dem Kies auflag. Er hob ihn an, der Schmerz wurde stärker, strahlte in Hals und Schultern aus. Er verzog das Gesicht, als er auf die Seite rollte, auf die linke … Da hing sein Gesicht über dem Abgrund, und ihm wurde übel, als er in die Tiefe blickte. Er lag am Rand des Dachs! Nur wenige Zentimeter trennten ihn von einem tödlichen Sturz. Entsetzt wälzte er sich auf dem Kies, der ihn durch die Kleidung hindurch pikste, in die andere Richtung – dann kroch er aus der Gefahrenzone heraus, ehe er sich auf seinen wackligen Beinen aufrichtete.
Er führte eine Hand an den Kopf und tastete ihn vorsichtig ab. Der Schmerz wurde stärker, und er zog sie zurück. Immerhin hatte er die riesige Beule unter seiner Kopfhaut gespürt. Er betrachtete seine Finger: Der Regen wusch das Blut ab, das sie rot färbte. Das hatte nichts zu bedeuten. Kopfhaut blutete immer stark.
Ein Stück weiter lag seine Waffe. Er machte zwei Schritte und bückte sich, um sie aufzuheben.
Er schleppte sich zu der Stahltür, die auf dieser Seite eine Klinke hatte. Er versuchte zu analysieren, was passiert war.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das Videoband …
Mit unsicheren Schritten stürzte er die beiden Treppenläufe hinunter, öffnete die Tür zur zehnten Etage und rannte zu den Aufzügen. Als im Erdgeschoss die Kabinentüren aufgingen, sah er sich sogleich nach der Tür zum Treppenhaus um. Da war die Nottür der Bank, durch die er vor einigen Minuten gekommen war. Sie war automatisch wieder zugefallen. Er verließ das Gebäude und ging auf die Glastüren der Bankfiliale zu. Sie waren noch immer verriegelt. Er war ausgesperrt. Er nahm sein Telefon heraus und rief den Direktor an.
„Sind Sie fertig?“
„Nein. Aber es ist etwas passiert.“
Fünf Minuten später fuhr ein japanischer Geländewagen auf dem Platz vor. Der Direktor stieg aus und ging mit besorgter Miene auf ihn zu. Er tippte einen Code ein, und Servaz hörte das Summen des elektrischen Schlosses. Er stieß die Tür auf und eilte zu dem Kabuff.
Das kleine Aufzeichnungsgerät war verschwunden. Auf dem Tisch lagen nur noch die Anschlusskabel.
Das also hatte der Angreifer gewollt. Die Videoaufzeichnungen. Er war ein erhebliches Risiko eingegangen. Kein Zweifel, er war es … der Kerl mit der Kapuze. Er hatte Claire Diemar getötet und Hugo unter Drogen gesetzt. Servaz hatte nicht mehr den leisesten Zweifel. Die ganze Zeit über war er da gewesen, hatte dem Polizisten nachspioniert, war ihm gefolgt. Er hatte gesehen, wie er an die Überwachungskamera getreten und in die Bank gegangen war. Ihm war aufgegangen, was Servaz vorhatte. Er wusste nicht, ob er auf den Bildern zu erkennen war, also war er dieses wahnwitzige Risiko eingegangen … Er musste zusammen bis Geschäftsschluss auf der Toilette versteckt haben. Anschließend hatte er Servaz so weit wie möglich von dem Kabuff weggelockt, und während der Polizist sich am anderen Ende der Filiale in der Toilette aufhielt, hatte er die Festplatte gestohlen und das Weite gesucht. So in der Art.
Servaz fluchte. Er bemerkte, dass das Wasser aus seiner durchnässten Kleidung zu seinen Füßen bereits eine Pfütze bildete.
„Glauben Sie, dass er auf diesen Videoaufzeichnungen zu sehen war … dass der Mörder dieser jungen Frau … in meine Bank eingedrungen ist?“
Die Stimme des Direktors zitterte beinahe. Er begriff, was hier passiert war. Er war bleich. Servaz hatte das Gefühl, dass ihm eine Eisenstange ins Gehirn gerammt wurde, so stark waren die Schmerzen. Er musste zum Arzt. Er rief den Erkennungsdienst an und bat sie, ein Team vorbeizuschicken.
„Gehen Sie nach Hause“, sagte er zum Direktor.
Dann verließ er den Raum und ging Richtung Schalterhalle. Seine wassergetränkten Sohlen gaben bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich. Von einem großen Kartonständer strahlte ihn eine hübsche Mitarbeiterin an. Sie hatte einen Schal in den Farben der Bank um den Hals gebunden. Diese verfluchten Werbefritze mit ihrer Gehirnwäsche, dachte Servaz wütend. Die Türen schlossen sich hinter ihm, und im Schutz der Balkone über ihm steckte er sich eine Zigarette an. Egal, aus welcher Perspektive er das Geschehene betrachtete, immer gelangte er zu der gleichen Schlussfolgerung: Er hatte den Mörder entwischen lassen.
Es wurde immer dunkler, außer im Osten, wo der Himmel
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