Kindsköpfe: Roman (German Edition)
gebeten.«
»Vielleicht sollten sie in dieser schweren Zeit bei ihrer Großmutter sein.«
Niklas war müde und hatte keine Lust auf Diskussionen.
Seine Mutter gab für einen Moment Ruhe und nippte an ihrem Glas. »Wir sollten Wolfram Bescheid sagen.«
Niklas dachte zunächst, er hätte sich verhört. Inkens Ex-Mann hatte sich vor über zwei Jahren aus der Verantwortung gestohlen und lebte mit seiner neuen Frau in Mettmann. Was ging es ihn an, wenn Inken im Krankenhaus lag?
»Deine Witze waren schon mal besser.«
»Die Kinder brauchen einen Vater.«
»Wir hatten damals auch keinen.« Niklas trotzte den Blicken seiner Mutter, die ihn an das ungeschriebene Gesetz erinnerte, nicht vom Vater zu sprechen. Eines Tages war er einfach weg gewesen, und Frau Tiedemann war nichts Besseres eingefallen, als zu erzählen, er hätte beruflich verreisen müssen. Niklas ärgerte sich heute noch über die Lüge, die er sich als Kind hatte auftischen lassen, denn seit wann fuhren Tanzlehrer auf Geschäftsreisen? Es vergingen Wochen und Monate ohne ein Lebenszeichen, und Niklas hörte nicht auf, seine Mutter zu löchern, bis die sich schließlich ganz weigerte, über den Abtrünnigen zu reden. Sie begann alles zu vernichten, was sie an früher erinnerte, bis nur noch Kinderbilder übrig waren, die Niklas zeigten, als er sieben war. Wenn er sie heute in ihrer kleinen Wohnung besuchte und die Fotos an der Wand betrachtete, kam es ihm so vor, als ob sein Leben erst damit begonnen hatte, dass sein Vater verschwunden war – die Zeit davor war ausgelöscht. Das Schweigen der Mutter hatte jahrelang die Phantasie der Kinder beflügelt, die sich die Schönheit der Tanzschülerin, mit der der Vater offenbar durchgebrannt war, in den schillerndsten Farben ausmalten. Bis Niklas eines Tages, mehr aus der Lust an der Provokation denn aus Überzeugung, seiner Mutter die Theorie unterbreitete, dass der Vater nicht umsonst Tänzer gewesen sei und möglicherweise Gefallen an einem seiner männlichen Schüler gefunden hatte. Das Brennen der Ohrfeige konnte Niklas heute noch spüren.
»Das war etwas anderes.« Seine Mutter putzte sich die Nase, dann richtete sie mit zackigen Bewegungen ihren Scheitel.
»Wolfram ist nicht mehr ihr Vater. Und wir werden ihn bestimmt nicht anrufen«, sagte Niklas und störte sich nicht daran, dass die Bedienung zu ihnen herüberstarrte. »Es scheint ja fast, als wäre dir jede Lösung recht. Hauptsache, die Kinder sind nicht bei uns.«
Frau Tiedemann berührte mit den Fingerspitzen seinen Unterarm und schaute ihn an. In ihren Augen blitzten Tränen.
»Du wohnst ja nicht mal mit Oliver zusammen, obwohl ihr euch schon so lange kennt.«
Niklas rief nach der Rechnung.
»Du hast Angst, dass er dich irgendwann verlassen könnte. Du denkst, wenn man nicht richtig zusammen ist, tut es nicht so weh.«
»Wir sollten gehen.« Niklas stand auf und legte das Geld auf den Tisch. »Inken wird inzwischen von der Untersuchung zurück sein.«
Am Abend traf Niklas die Kinder und Oliver bei McDonald’s. Es entsprach nicht seiner Vorstellung einer idealen Mahlzeit, schon gar nicht, weil er vor Jahren die Herstellung von Fernsehspots einer Imbiss-Kette begleitet hatte. Um den Burger richtig dampfen zu lassen und die Illusion einer frisch gebratenen Boulette zu erzeugen, hatte der Stylist mehrere Kippen unter das oberste Brötchen gesteckt – seitdem konnte man Niklas mit Essen aus Schnellrestaurants jagen.
»Fast Food ist eben nur fast Essen«, sagte er gerne. Doch heute war er zu erschöpft, um darüber zu streiten. Hannes, der noch immer Erikas Pappnase zu seinem Piraten-Cowboy-Kostüm trug, war ganz aufgeregt und konnte es kaum erwarten, bald wieder ins Tantenhaus zu fahren, zu seiner Mama. Prinzessin Lotte plapperte unentwegt.
»Maki sagt, dass Mama all ihre schönen schwarzen Haare verliert.«
»Die wachsen auch wieder nach«, sagte Niklas. Inken hatte ihm bereits Schauergeschichten von Lottes japanischer Freundin erzählt. Maki war nach den Sommerferien in ihre Klasse gekommen, weil sie wegen Verhaltensauffälligkeiten ein Jahr wiederholen musste.
»Maki sagt, Mama kriegt bestimmt nie wieder Kinder, wenn sie keine Brust mehr hat, denn wo sollen die kleinen Babys sonst die Milch herbekommen?«
Oliver verschluckte sich fast an seiner Cola, so sehr versuchte er, nicht laut loszuprusten. Vom Nebentisch gafften zwei auffällig geschminkte Frauen herüber.
»Und wahrscheinlich darf Mama bald oben ohne ins Freibad, sagt
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