Kindsköpfe: Roman (German Edition)
arbeiten. Die Plattenfirma hatte ihm mittlerweile verboten, den Roland-Kaiser-Hit zu »verunglimpfen«, wie es in der Fax-Absage hieß. Nun musste er von vorne beginnen, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Nach einer Viertelstunde ging er nachsehen, ob die Kinder wirklich noch schliefen. Dass sie ohne Protest eingeschlafen waren, machte Niklas ein wenig stolz, auch wenn Oliver behauptet hatte, sie seien nur aus Angst vor ihrem Onkel ins Bett gegangen. Er hatte das im Scherz gesagt, und doch war etwas Wahres dran, auch wenn Niklas lieber das Wort ›Respekt‹ gehört hätte. Er hielt es nicht für ein Verbrechen, Kindern einen gewissen Gehorsam abzuverlangen, auch wenn es ihn gelegentlich neidisch machte, zu beobachten, dass Lotte und Hannes mehr Spaß mit Oliver hatten, der manches nicht so genau nahm.
Niklas kehrte zu seinem Notebook zurück, doch zu viele Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum. Die Vorstellung, vielleicht bald Vater zu werden, löste die unterschiedlichsten Reaktionen aus: Da war zum einen der Reiz, etwas zu kreieren, nicht bloß eine Kampagne, einen Spruch, der für einen Monat oder zwei auf den Plakatwänden der Stadt zu lesen war, um dann wieder vergessen zu werden. Niklas spürte durchaus auch den Wunsch, dazuzugehören, sich gemeinmachen zu können mit den anderen, von denen er sich oft genug belächelt fühlte – als Mann, dessen bisherige Lebensleistung darin bestand, sich lustige Sprüche auszudenken, aber auch, weil er das Schnarchen eines anderen Mannes in seinem Bett den kalten Füßen einer Frau vorzog.
Gleichzeitig machte ihm die Vorstellung einer Vaterschaft Angst. Es war weniger die Verantwortung, die er damit übernahm – die betrachtete er als willkommene Herausforderung; nein, vielmehr würde er plötzlich in einer Art Wettstreit mit Wolfram stehen. Bislang war es einfach gewesen, Inkens Ex-Mann zu verachten, weil er seine Familie im Stich gelassen hatte. Nun musste Niklas beweisen, dass er es besser konnte. Besser auch als sein eigener Vater, für den er nach wie vor liebevolle Gefühle hegte, bei allem Gram und aller Enttäuschung – das gehörte wiederum zu den Verlockungen des Kinderkriegens. Es war auch nicht ganz ausgeschlossen, dass Niklas eine Chance witterte, die Gunst seiner Mutter zurückzugewinnen, die die natürliche Ordnung verrückt sah, weil das jüngste Kind ihr zuerst Enkel geschenkt hatte und nicht ihr Sohn, der Stammhalter. Manchmal wünschte sich Niklas, sie möge ihm zugutehalten, dass er ihr dafür Trennungsdramen erspart hatte, denn er hatte seine früheren Beziehungsversuche vor ihr geheim gehalten. Andererseits war es vielleicht ebendieses Drama, das eine Mutter zum Leben brauchte, weil es ihre ureigenen Fähigkeiten als Trösterin hervorbrachte, aus der sie gleichsam ihre Daseinsberechtigung ableitete.
Die Graphiken vor seinen Augen verschwammen. Niklas fuhr den Computer runter und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Damit setzte er sich an die Tür zum Gästezimmer und lauschte dem regelmäßigen Atmen der Kinder. Es beruhigte ihn, hier zu sein, als könnte er irgendetwas ausrichten, indem er mitten in der Nacht vor ihrem Zimmer saß, anstatt in der Küche zu arbeiten oder im Bett zu liegen und zu schlafen. Als könnte er sie vor irgendeiner absurden Gefahr beschützen oder davor bewahren, von einem Moment auf den nächsten das Atmen einzustellen. Er fühlte sich plötzlich unheimlich wichtig und mächtig, aber er hatte auch Angst vor dieser Macht, die jeden Moment in eine Ohnmacht umschlagen konnte, etwa, wenn eines der Kinder plötzlich aufwachte und nach Inken fragte, und so war er froh, dass sie nur vorübergehend bei ihm schliefen.
Der Blick aus Inkens neuem Zimmer war umwerfend: Von einigen wenigen Wolkenfetzen abgesehen leuchtete der Himmel blau, und die Sonne schien so stark, dass man die Hand zum Schirm formen musste, wenn man aus dem Fenster schaute. Der Fernsehturm sonnte sich im grellen Licht. Die Schornsteine zahlreicher Häuser dampften; dazwischen konnte man den Rhein sehen, auf dem die ersten schweren Schlepper dahintrieben.
»Die haben dir die Präsidentinnen-Suite gegeben, Schwesterschatz!«, rief er gutgelaunt, um Inken vor der Operation aufzumuntern. Doch sie drehte ihrem Bruder den Rücken zu. Das hatte zu den Dingen gehört, die sie nach Wolframs Verschwinden überhaupt nicht vermisst hatte: Niemand meinte, sie bevormunden zu müssen. Nun hatte Niklas dafür gesorgt, dass Inken ins Einzelzimmer verlegt wurde, obwohl
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