Kindsköpfe: Roman (German Edition)
der Agentur, sondern ein Marseiller Austauschstudent, den das Flittchen kurz vor Ostern in seiner Stammkneipe aufgegabelt hatte.
Nach einer kurzen Begrüßung projizierte Wittenberg den ersten Entwurf an die Leinwand, der einen wütenden Kontrolleur mit hochrotem Kopf zeigte, dem es gefährlich aus den Ohren dampfte. »Wenn Sie schwarzfahren, sehen wir rot« , hieß es dazu.
Niklas blickte in eine Ansammlung von eingefrorenen Gesichtern, an denen man nicht ablesen konnte, ob sie in Gedanken die Einkaufsliste fürs Wochenende durchgingen oder den letzten Sex mit ihrer Frau Revue passieren ließen, der etliche Jahre zurückliegen musste.
In Entwurf Nummer zwei streckte eine Kolonne zufrieden dreinblickender U-Bahn-Fahrgäste ihre Tickets in die Luft – lässig gezeichnet wie im Comic und überschrieben mit »Ehrlich fährt am längsten« .
Keine Reaktion. Die Herren vom Verkehrsverbund saßen starr wie Crash-Test-Dummies in ihren schwarzen Ledersesseln und betrachteten die Vorschläge, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nun hatte Wittenberg ihnen genug drittklassige Ideen vorgesetzt; sie waren bereit für Niklas’ Lieblingsclaim. Doch gerade als er den Trumpf aus der Tasche zaubern wollte, betrat Fräulein Schwarzkopf den Sitzungsraum. Verfolgt von den Blicken der grauen Herren lief sie an den Tischen entlang. Als sie bei Niklas angekommen war, bedeutete er ihr, einen Moment zu warten. Wittenberg präsentierte die Zeichnung einer kleinen Gruppe von Kontrolleuren in gutsitzenden Uniformen, die auf einen schuldbewusst dreinblickenden jungen Mann mit Baseballkappe zeigten und ihre loriotmäßig übertriebenen Nasen rümpften. Darunter war zu lesen: »Wir lassen keinen mehr fahren.«
Und noch etwas tiefer:
»Ohne gültiges Ticket.«
Plötzlich erwachten die grauen Herren zu neuem Leben. Hier war ein interessiertes Räuspern zu hören, dort ein unterdrückter Lacher.
»Ist das nicht ein bisschen zu gewagt?«, fragte jemand unsicher in die Runde, wurde aber sofort von seinen Kollegen zum Schweigen gebracht. Erleichtert zwinkerte Niklas seinem Creative Director zu, der zufrieden nickte; dann beugte sich Niklas zu Helene Schwarzkopf hinüber, die ihm zuflüsterte, dass ihn ein gewisser Wolfram Bayer sprechen wolle.
Aufgebracht knallte Niklas die Tür seines Büros zu. Dies war der Moment, vor dem er sich seit Wochen gefürchtet hatte. Er stützte sich mit beiden Händen am Schreibtisch ab und holte tief Luft. Dann riss er den Hörer vom Telefon.
»Was verschafft mir die zweifelhafte Ehre?«
»Ich möchte die Kinder sehen.«
»Wirst du auf deine alten Tage sentimental? Oder hast du eine unheilbare Krankheit?« Seine Stimme zitterte vor Wut.
»Ich möchte meine Kinder sehen.«
»Das habe ich verstanden, aber warum?«
Wolfram antwortete nicht.
»Bist du noch dran?«
»Ich bin ihr Vater.« Wolfram klang hölzern, als lese er seine Worte von einem Spickzettel ab.
»Musstest du dir das aufschreiben, um es nicht zu vergessen?«
»Passt es euch nächste Woche? Da habe ich Frühdienst, ich könnte nach der Arbeit vorbeikommen.«
Niklas lockerte den Knoten seiner Krawatte und knöpfte sein Hemd auf. Dann schob er eine Hand über die Sprechmuschel, atmete ein paar Mal tief durch und sagte: »Das kann ich nicht alleine entscheiden. Ich muss erst die Kinder fragen. Vielleicht hast du Glück, und sie erinnern sich an dich.«
Wütend legte Niklas auf und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Sein Blick fiel auf das Plakat an der gegenüberliegenden Wand, eine Anti-Landminen-Kampagne, die eine Menschenrechtsorganisation in Auftrag gegeben hatte. Es zeigte eine Szene in einem Krankenhaus, wo eine Kinderschwester mit einem Mädchen Ball spielte, das bei einer Explosion beide Beine verloren hatte. Wir machen gutes Spiel zur bösen Mine , war darunter zu lesen . Damit hatte er vor ein paar Jahren den zweiten Preis bei einem Wettbewerb gewonnen.
Er nahm den Hörer erneut ab und wählte die Nummer des Jugendamtes, doch als das Freizeichen ertönte, legte er schnell auf. Er riss sich zusammen und versuchte es wieder. Als am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde, ließ er sich verbinden.
»Sie haben nicht auf meinen Brief reagiert«, sagte Herr Lothar.
»Ziehen Sie mal zwei Kinder groß, da kommen die nettesten Korrespondenzen zu kurz.«
Nadja betrat sein Büro mit zwei Sektgläsern und fragte, warum er nicht mit den anderen feierte. Niklas winkte ab.
»Warum haben Sie sich entschieden, doch noch anzurufen?«
»Ich lasse
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