Kindsköpfe: Roman (German Edition)
mir von Ihnen nicht die Kinder wegnehmen!«
Nadja rollte mit den Augen und verschwand wieder.
»Das liegt nicht in meiner Hand, Herr Tiedemann, und davon spricht auch niemand. Wir wollen uns lediglich davon überzeugen, dass es den Kindern bei Ihnen gutgeht.«
»Natürlich geht es ihnen gut. Das können Sie auch der Schnüfflerin sagen, die Sie uns auf den Hals gehetzt haben.«
»Wir beschäftigen keine Schnüfflerinnen.«
Niklas beschrieb die Frau, die er beim Großmarkt gesehen hatte und die sich später als Nachbarin ausgegeben hatte. Herr Lothar beharrte darauf, dass sein Amt nicht die Stasi war.
»Angenommen, es gäbe noch einen Vater … «
»Davon gehe ich aus«, sagte Herr Lothar trocken.
»Er will die Kinder treffen.«
»Wie ist ihr Verhältnis?«
»Von Verhältnis kann gar keine Rede sein. Sie haben ihn seit Jahren nicht gesehen, es würde mich wundern, wenn er sie überhaupt wiedererkennt, falls es zu einem Treffen kommt.«
»Wollen die Kinder das denn?«
In einem Zug leerte Niklas das Glas, das Nadja ihm gebracht hatte.
»Besuchen Sie uns doch mal! Dann werden Sie sehen, wie absurd Ihre Frage ist.«
Als absurd stellte sich bei seinem Besuch vor allem heraus, dass Niklas eine solche Angst vor dem Jugendamt gehabt hatte. Frau Kobayashi putzte das Heim heraus und besorgte frische Blumen, die sie in Küche, Bad und Wohnzimmer drapierte; Niklas verteilte den reichhaltigen Fundus an Erziehungsratgebern zu gleichen Teilen auf ihren Nachttischen, und Oliver ließ noch in letzter Sekunde die Schultafel verschwinden, von deren pädagogischem Nutzwert sein Freund so sehr überzeugt war. Doch dann war ein hagerer Mann in den Fünfzigern erschienen, mit gräulichen lichten Haaren und im schlaff sitzenden Karohemd, der auf Äußerlichkeiten herzlich wenig Wert zu legen schien und auch einen Blick in das Schlafzimmer der Männer dankend ablehnte.
Herr Lothar beschäftigte sich eine Weile allein mit den Kindern. Geduldig ließ er sich von Hannes einen Karnevalsschlager vorsingen, während Lotte versuchte, ihren Bruder mit ihrer LaFee-CD zu übertönen. Der Mann vom Jugendamt hakte ein paar Punkte auf seiner Liste ab und begab sich schließlich zu den Männern ins Wohnzimmer. Dort inspizierte er das Bücherregal und schließlich noch die umfangreiche DVD- und Videosammlung. Er wollte die Sache schon abschließen, sichtlich zufrieden, dass keine Pornos darunter waren, bis Herr Lothar auf Niklas’ stolze Sammlung von Grand-Prix-Aufzeichnungen stieß, die zum Teil selber aufgenommen waren, zum Teil zusammengesammelt bei Internet-Auktionen oder direkt als Kopie beim Sender bestellt. Die Sammlung reichte mit wenigen Lücken bis zurück in die Anfangsjahre.
»Sagen Sie, kennen Sie die Sendung von 1963?« Seine Augen begannen zu glänzen, und auf den Wangen erschien ein rosiges Leuchten. »Als doch die Heidi Brühl bei der Vorentscheidung alle fünf Titel selber singen durfte, weil man sie für die Schmach von 1960 entschädigen wollte? Haben Sie die zufällig auch?«
Niklas musste passen und empfand aufrichtiges Bedauern. Schließlich hatte sich Herr Lothar gerade als Mitglied seiner großen Familie geoutet. Damit war es so gut wie sicher, dass sie das Jugendamt auf ihrer Seite hatten.
Am Tag, für den Wolfram seinen lästigen Besuch angekündigt hatte, entführten Niklas und Oliver die Kinder nach der Schule zu ihrem Lieblingsitaliener. Sie hatten ihnen die Entscheidung überlassen, ob man ihrem Vater seinen plötzlichen Wunsch nach einem Wiedersehen erfüllen sollte. Lotte hatte sich so gefreut, als wollte man Weihnachten, Ostern, ihren Geburtstag und den ihrer Lieblingspuppe zusammenlegen.
»Ciao, Bellissima!«, wurden sie von Pino begrüßt. »Wie geht es Prinzessin?«
»Wir wollen die größte und leckerste Pizza haben, die es bei dir gibt«, rief Niklas.
Der Italiener zwinkerte Lotte zu. »Und wie geht es kleine Prinzessin?«
Oliver kicherte, und Niklas bat Pino, den Kindern kein dummes Zeug beizubringen.
Hannes hatte wie immer einen gesunden Appetit und verputzte den großen Haufen Nudeln, den Pinos Frau ihm gebracht hatte, als ginge ihn der bevorstehende Besuch seines Piraten-Vaters nichts an. Der Kleine konnte sich vermutlich gar nicht an Wolfram erinnern. Lotte dagegen bekam kaum einen Bissen herunter, so aufgeregt war sie.
»Und mein Papa kommt wirklich?«, fragte sie wohl schon zum zehnten Mal an diesem Tag.
»Natürlich!«
Niklas fand Olivers Antwort etwas vorschnell. Zwar hatte er sich
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