Kindsköpfe: Roman (German Edition)
brachte es nicht übers Herz, den Kindern von ihrer Trennung zu berichten.
»Geil!«, jubelte Lotte lauthals, und Niklas bereute schon, sich für die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Maki eingesetzt zu haben.
Von den Beinen seiner Mutter fiel meterlange weiße Seide, die sich bei näherem Betrachten als Brautkleid entpuppte, dessen Trägerin sich zwischen Spitzen und Pailletten offenbar nicht hatte entscheiden können. Das Haar, sonst streng gescheitelt, hing ihr wild in die Stirn; die Brille, die sie nur zum Lesen und Arbeiten benutzte, thronte auf ihrer Nasenspitze und drohte jeden Moment herunterzurutschen.
Wie Niklas sie da sitzen sah, umringt von den Kindern, die voller Neugier ihre Arbeit bestaunten, vor sich die Jahrzehnte alte Nähmaschine, mit der sie damals aus Hamburg geflohen waren und mittels derer sie die Kinder durchgebracht hatte, bis sie einen richtigen Job in einer Schneiderei gefunden hatte, beschlich ihn ein wehmütiges Gefühl. Hannes und Lotte – das waren er und Inken. Bitterlich hatten sie sich manches Mal darüber beklagt, dass die Mutter noch nach Feierabend zu Hause an diesem merkwürdig ratternden Ding saß, anstatt mit ihnen zu spielen oder etwas aus einem Buch vorzulesen. Dass diese Maschine sie ernährte, hatten sie lange nicht begriffen.
Frau Tiedemann erschrak, als sie plötzlich seine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie steckte sich die Brille ins zerzauste Haar und ermahnte ihren Sohn, nicht auf den Stoff zu treten.
»Ich ziehe mit Hannes und Lotte ein bisschen um die Häuser, dann hast du hier deine Ruhe.«
»Fahrt nicht zu weit weg, falls Petra sich meldet.« Dann trat sie wieder in die Pedale.
»Du erreichst mich auf dem Handy.«
Seine Mutter nickte abwesend. Sie unterbrach ihre Arbeit erneut und suchte mit ärgerlichen Blicken den Tisch ab, an dem sie saß.
»Wo ist denn diese verdammte Brille schon wieder?«, schimpfte sie, aber als sie sich seitlich über den Boden beugte, wo sie ihre Sehhilfe vermutete, rutschte diese ihr vom Kopf. Hannes und Lotte kicherten, doch Frau Tiedemann zog die Brille schnell wieder auf und funkelte die Kinder böse durch ihre dicken Gläser an.
»Was steht ihr noch hier herum und haltet Maulaffen feil? Ich dachte, ihr wolltet was mit eurem Onkel unternehmen! Na los!«
Im Auto wählte Niklas Olivers Nummer und bat die Kinder, leise zu sein; er wollte ihn überraschen. Lotte und Hannes hielten einander den Mund zu und begannen zu kichern.
Zunächst war Oliver nicht sonderlich erbaut von der Idee eines spontanen Treffens. »Ich weiß nicht. Deine Überraschungen machen mir neuerdings Angst.«
»Heute ist es anders«, versprach Niklas und drängelte so lange, bis Oliver sich ergab und einem Treffen im Café zustimmte. Niklas legte auf und gab seinen kleinen Beifahrern das Zeichen loszujubeln.
Er hoffte, dass Oliver das Wiedersehen mit den Kindern vor Augen führte, dass er einen Fehler begangen hatte; vielleicht würde er dann auch zu ihm zurückkehren und mit ihm für das Sorgerecht kämpfen. Vor lauter Aufregung konnte es Niklas gar nicht erwarten und nahm erschrocken den Fuß vom Gas, als er feststellte, dass die Tachonadel mit der 200 flirtete.
Er reihte sich hinter einem LKW ein und überzeugte sich im Rückspiegel, dass die Kinder nichts bemerkt hatten.
Lotte bohrte in der Nase, und Hannes lehnte mit dem Kopf am Fenster.
»Et Schönste, wat m’r han, es unser Veedel«, sang er leise vor sich hin.
»Wie läuft es eigentlich beim Ballett?«, erkundigte sich Niklas bei Lotte, die erschrocken den Finger aus der Nase zog. »Oder macht dein Bein da noch nicht mit?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Macht es dir keinen Spaß mehr?«
Lotte rümpfte die Nase. »Ich geh da nicht mehr hin.«
»Es scheitert hoffentlich nicht am Geld! Ich bezahle das natürlich weiter. Und wenn die Neander … Wenn deine Stiefmutter dich da nicht hinfahren will, mache ich das gerne.«
Traurig ließ das Mädchen den Kopf hängen.
»Willst du es dir nicht nochmal überlegen?«
»Petra sagt, Ballett bricht kleinen Kindern den Rücken.«
»Ich fürchte, ich muss mal ein ernstes Wort mit dieser Frau reden.«
»Nicht schon wieder streiten, bitte!«
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Niklas verließ die Autobahn und konzentrierte sich auf den Weg. Zu seinem Erstaunen fand er ganz ohne Probleme zu ihrem Treffpunkt und wertete dies als gutes Omen.
Im Café angekommen, bestellten sie Eis und Kuchen. Niklas bekam keinen Bissen
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