Kindsköpfe: Roman (German Edition)
hinunter, doch Hannes schmetterte mit vollem Mund seinen alten Karnevalsschlager, und Lotte fuhr ihn genervt an, er möge endlich damit aufhören.
Oliver erschien nicht zur verabredeten Zeit. Auch nicht zehn Minuten später, wie es seine Art war. Hannes hörte auf zu singen. Nach einer halben Stunde begann Lotte zu quengeln; Eis und Kuchen waren längst verputzt. Niklas rief seinen Ex-Freund erneut an, doch der ging nicht dran. Als eine geschlagene Stunde vorüber war, wusste Niklas nicht mehr, welche Ausflüchte er erfinden sollte, und verlangte die Rechnung.
Auf dem Weg zum Auto entdeckte Lotte ein Kino, in dem ein alter Pippi-Langstrumpf-Film lief. Gemeinsam mit Hannes schlug sie so lange Krach, bis Niklas, ohnehin nicht in bester Verfassung, nachgab. Die Vorstellung begann um 14 Uhr 30, bis zum Termin in der Agentur würde er es rechtzeitig schaffen. Also verbrachten sie die nächsten anderthalb Stunden gemeinsam im Taka-Tuka-Land, aber dennoch sah jeder seinen ganz eigenen Film. Voller Wehmut erinnerte sich Niklas, dass er als Kind in Annikas Bruder verliebt war, und fragte sich, ob er heute zufriedener wäre, wenn er damals seinen geheimen Plan ausgeführt hätte und nach Schweden ausgerissen wäre, um Tommy zu heiraten. Lotte dagegen gefiel sich in der Vorstellung, eines Tages ihrem Idol nacheifernd mit Affe und Pferd in einem Haus zu wohnen und nach Belieben mit Heißluftballons in den Urlaub zu fliegen, während Hannes wie wild Popcorn in sich hineinschaufelte und gegen Piraten-Boss Blutfehde und seine Mannen pöbelte.
Niklas lehnte sich unauffällig zu Lotte herüber, um zu erfahren, was der Grund für die plötzliche Verstimmung sein mochte.
»Hannes sagt, Piraten sind langweilig und doof«, flüsterte Lotte.
Ungläubig betrachtete er den Jungen und schüttelte den Kopf. Eher noch hätte man ihm weismachen können, dass Oliver aufgehört hatte, Karneval zu feiern. Sein halbes Leben lang waren die Piraten für Hannes eine Art Religion gewesen, aber kaum lebte er ein paar Wochen bei seinem biologischen Vater, hatte er seinen Glauben verloren.
Niklas nahm sich vor, noch intensiver daran zu arbeiten, die Kinder zurückzuholen. Er durfte sich nicht mehr so einfach von Petra abwimmeln lassen.
Beim Verlassen des Kinos schaltete er sein Handy wieder ein, und vermutete zunächst nichts Böses, als ihm die Hüterin der Mailbox mitteilte, dass man in den vergangenen zwei Stunden 13-mal versucht hätte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Zunächst vermutete er Oliver dahinter, doch schon die ersten beiden Anrufe kamen aus der Agentur, von Nachrichten hatte man abgesehen. Dann folgte die Stimme von Frau Tiedemann.
»Niklas …? Niklas …! Petra hat gerade angerufen. Sie ist in einer Viertelstunde hier. Wo seid ihr denn bloß?«
Als Nächstes hatte sich Nadja verewigt. Sie flüsterte, dass man sie kaum verstand.
»Wittenberg hat nach dir gefragt. Es geht um das Meeting mit den Kölnern, die sind offenbar von 15 Uhr ausgegangen statt von fünf. Vielleicht kannst du es ja noch einrichten … Ich mache dann auch gleich Feierabend, der Franzose wartet. Adieu mit ö.«
Der nächste Anrufer sprach ungleich lauter.
»MANN, TIEDEMANN! ES IST ZWANZIG NACH DREI! WIR SITZEN HIER OHNE SIE! WAS BILDEN SIE SICH EIGENTLICH EIN? ICH WILL SIE MORGEN FRÜH IN MEINEM BÜRO SEHEN! PUNKT NEUN! ENDE DER DURCHSAGE!«
»Wer war das?«, fragte Lotte, die das Geschrei problemlos hatte mithören können.
»Nur mein Boss.« Niklas scheuchte die Kinder zum Auto, während er weiter seine Mobilbox abhörte, die ihm nun wieder die verzweifelte Stimme seiner Mutter vorspielte.
»Niklas, komm bitte nach Hause! Ich weiß nicht mehr, was ich Petra noch alles erzählen soll. Meldet euch bitte … hörst du?«
Auch hinter den nächsten Anrufern vermutete er seine Mutter, obwohl sie keine Nachricht hinterlassen, sondern noch kurz nach dem Signalton in die Leitung gehorcht und resigniert aufgelegt hatte. Dann meldete sich die Stimme von Mattis.
»Hey, Alter! Hat sich deine Anwältin wegen des Testaments schon gemeldet? Ich habe irgendwie kein gutes Gefühl bei der Sache. Es muss doch noch einen anderen Weg … «
Wütend legte Niklas auf und befahl den Kindern die Augen zu schließen. Dann raste er durch die Stadt, wobei er dunkelorange Ampeln großzügig als hellgrün interpretierte. Er jagte über die Autobahn und kam um fünf vor fünf atemlos in der Agentur an. Fräulein Schwarzkopf teilte ihm mit, dass die Kölner bereits verschwunden waren,
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