Kings of Cool: Roman (German Edition)
Wasser.
245
Johannes, 14:2
»In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?«
246
Was passiert ist?, wiederholt Stan.
Mit uns? Mit dem Land?
Was passiert ist, wenn deine Kindheit mit der Dealey Plaza, mit Memphis und der Küche des Ambassador Hotels endet und dein Glaube, deine Hoffnung, deine Zuversicht in einer Blutlache ertrinken? 55000 tote Brüder in Vietnam, eine Million tote Vietnamesen, Fotos von nackten Kindern, die mit Napalm bombardiert wurden und eine Straße entlang rennen, Kent State, sowjetische Panzer in Prag, und du steigst aus, weil du weißt, du kannst das Land nicht neu erfinden, aber vielleicht dich selbst, und du glaubst, du glaubst wirklich ganz fest, dass du das kannst, dass du deine eigene Welt schaffen kannst, und dann schränkst du's ein auf ein kleines Fleckchen Erde, auf dem du dich behaupten willst, und musst erfahren, dass das kleine Fleckchen einen Haufen Geld kostet, das du nicht hast.
Was passiert ist?
Altamont, Charlie Manson, Sharon Tate, Son of Sam, Mark Chapman. Wir haben gesehen, wie sich der Traum in einen Alptraum verwandelte, wie aus Love and Peace Krieg und Gewalt wurden, aus Idealismus Realismus und aus Realismus Zynismus und aus Zynismus Apathie und aus Apathie Egoismus und aus Egoismus Habgier, und die Habgier war gut und wir bekamen Babys, Ben, wir bekamen dich, und wir hatten Hoffnungen, aber auch Ängste, und wir bauten unsere Nester, die zu Bunkern wurden, machten unsere Häuser kindersicher, kauften Autositze und Saft aus biologisch angebauten Äpfeln, beschäftigten mehrsprachige Kindermädchen und bezahlten Schulgeld für Privatschulen, aus Liebe und auch aus Angst.
Was passiert ist?
Erst willst du eine neue Welt erschaffen und dann merkst du, dass du eigentlich nur noch deinen Weinkeller auffüllen und die Glasveranda ausbauen willst, du siehst, dass du älter wirst, und fragst dich, ob du dafür schon genug beiseite gelegt hast, und plötzlich merkst du, dass dir die Jahre Angst machen, die vor dir liegen.
Das ist passiert.
Watergate, Irangate, Contragate, Skandale und Korruption ringsum, und du glaubst, du wirst niemals korrupt werden, aber die Zeit korrumpiert dich, korrumpiert dich so sicher wie Schwerkraft und Erosion, reibt dich auf, macht dich mürbe, ich glaube, mein Sohn, das ist mit dem Land passiert, es war müde, zermürbt von den Morden, den Kriegen, den Skandalen, zermürbt von
Ronald Reagan, von Bush dem Ersten, der Kokain verkaufte, um Terroristen zu finanzieren, vom Krieg für billiges Benzin, von Bill Clinton, von Realpolitik und Kleidern mit Spermaflecken, während wahnsinnige Fanatiker Pläne schmieden, von Bush dem Zweiten und denen, die ihn lenkten, ein ehemaliger Verbindungsstudent und böse alte Männer, und dann machst du eines Morgens den Fernseher an, und die Türme stürzen ein und der Krieg ist zu Hause angekommen, das alles ist
passiert.
Afghanistan und Irak und der Wahnsinn das Töten das Bomben die Raketen der Tod, du bist wieder in Vietnam, und ich könnte alles darauf schieben, aber am Ende am Ende
tragen wir selbst die Verantwortung.
Was passiert ist?
Wir wurden müde, wir wurden alt, wir hörten auf zu träumen, wir lernten uns zu verachten, unseren jugendlichen Idealismus abzulehnen, wir haben uns billig verkauft, wir sind nicht die
die wir sein wollten.
247
Paku liegt auf dem Sofa.
Flasche Gin, Pillen auf dem Wohnzimmertischchen.
Man sieht ihr die Wirkung im Gesicht an, am Blick. Sie mustert O beim Reinkommen und sagt: »Du wirkst ungewöhnlich adrett.«
»Wo ist Nummer vier?«
»Wie witzig«, sagt Paku und lallt ein bisschen. »Nummer vier ist weg.«
»Ich war bei Paul.«
»Das habe ich dir doch verboten.«
»Ich weiß.«
»Aber du hast es trotzdem gemacht.«
»Sieht so aus.«
Paku setzt sich auf, schenkt sich den Rest aus der Flasche ins Glas und sagt: »Und bist du jetzt glücklicher? Hattest du eine Erleuchtung? Die dir erlaubt, dem Zustand unaufhörlicher Pubertät zu entwachsen?«
»Er hat gesagt, er ist nicht mein Vater.«
»Der Mann lügt.«
»Ich glaube ihm.«
»Natürlich tust du das«, sagt Paku. »Du hast ja auch an die Zahnfee geglaubt, bis du elf warst. Ich hab schon überlegt, ob ich dich untersuchen lassen soll.«
»Wer ist er?«
»Wer ist wer?«
»Mein Vater«, sagt O.
Sag's einfach.
248
Er kennt seinen alten Herrn.
Kennt ihn auf eine Art, wie man nur sein eigenes Fleisch
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