Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
Schweigen, nichts worauf ich reagieren oder mich konzentrieren konnte — keine Möglichkeit mich abzulenken. Schon das Atmen fiel schwer. Ich fühlte mich, wie wenn ein Glasstab über Seide streift. Aus dem Augenwinkel meinte ich zu sehen, daß sein Gesicht sich mir zuwandte. Ich blickte ihn an.
»Hey«, sagte er sanft. »Weißt du, was wir jetzt machen?«
Charlie bewegte sich leicht auf seinem Sitz und drückte meine Hand zwischen seine Beine. Ein Schlag durchfuhr mich und ich stöhnte unwillkürlich. Charlie lachte, ein leiser, erregter Laut, und dann schaute er wieder auf die Straße. Mit Charlie zu lieben, das war, wie von einer großen, warmen Maschine umfangen zu sein. Nichts wurde von mir verlangt. Alles ging so leicht, so fließend. Es gab keine verlegenen Momente. Es gab kein Zurückhalten, keine Befangenheit, kein Zögern, keine Vorsicht. Es war, als hätte sich ein Kanal zwischen uns geöffnet, durch den die sexuelle Energie nach beiden Seiten ungehindert strömte. Wir liebten uns mehr als einmal. Zuerst war zuviel Hunger dabei, zuviel Hitze. Wir fielen übereinander her mit einer Wucht, einer Intensität, die keine Zärtlichkeit zuließ. Wir prallten gegeneinander wie Wellen auf einen Wellenbrecher, Sturzseen des Vergnügens, die hoch aufbrausten und sich zerteilten. Die Gefühlsbilder handelten alle von vernichtender Gewalt, von Donnern und Tosen und Sturmböcken, mit denen er zu mir durchstieß, sich von mir wälzte und wieder über mich, bis alle meine Mauern in Schutt und Asche gelegt waren. Dann richtete er sich auf dem Ellbogen auf und küßte mich lange und zart, und alles begann von vorn, nur diesmal in seinem Rhythmus, mit halber Geschwindigkeit, quälend langsam wie das Reifen eines Pfirsichs an einem Zweig. Ich spürte, wie ich ganz rosenrot wurde, mich in Honig und Öl verwandelte — ein wohliges Behagen, das mich allmählich durchdrang wie ein Beruhigungsmittel. Hinterher lagen wir lachend und verschwitzt und außer Atem beieinander, und dann umfing er mich im Schlaf, das Gewicht seiner großen Arme nagelte mich ans Bett. Aber weit davon entfernt, mich eingeschlossen zu fühlen, fühlte ich mich sicher und behütet, als könnte mir nie etwas geschehen, solange ich im Schatten dieses Mannes blieb, dieser schützenden Höhle aus Wärme und Haut, in die ich bis zum Morgen eingebettet war, ohne auch nur einmal aufzuwachen.
Um sieben Uhr spürte ich, wie er mich leicht auf die Stirn küßte, und danach schloß sich leise die Tür. Bis ich mich wachgerüttelt hatte, war er fort.
20
Ich stand um neun Uhr auf und verwandte den Sonntag darauf, mich um häusliche Pflichten zu kümmern. Ich putzte meine Wohnung, machte Wäsche, ging zum Supermarkt und hatte einen netten Plausch mit meinem Vermieter, der sich im Hintergarten sonnte. Für einen Mann von einundachtzig hat Henry Pitts ganz erstaunliche Beine. Er hat außerdem eine wundervolle Hakennase, ein dünnes, aristokratisches Gesicht, unerhört weiße Haare und Augen, die uferschneckenblau sind. Der Gesamteindruck ist sehr sexy, elektrisierend, und die Fotos, die ich von ihm aus seinen jüngeren Jahren gesehen habe, sind überhaupt kein Vergleich. Mit zwanzig, dreißig und vierzig wirkt Henrys Gesicht zu voll, zu unentwickelt. Mit dem Vergehen der Jahrzehnte beginnen die Fotos einen Mann abzubilden, der hager und grimmig wird, bis er nunmehr in reinster Konzentration erscheint, wie ein Grundstock, der zu einem kräftigen Elixier eingekocht worden ist.
»Hören Sie, Henry«, sagte ich und ließ mich neben seiner Liege ins Gras plumpsen. »Sie führen ein viel zu faules Leben.«
»Sünde und Verfall«, meinte er lässig, ohne auch nur die Augen aufzuschlagen. »Sie hatten letzte Nacht Besuch.«
»Ein Freund, der über Nacht blieb. Genau das, wovor unsere Mütter uns immer gewarnt haben.«
»Wie war’s?«
»Sag ich nicht. Was für ein Kreuzworträtsel haben Sie diese Woche ausgebrütet?«
»Ein leichtes. Lauter Paariges. Vorsilben >bi<, >di<, >du<, >dis<. Zwo. Zwilling. Binär. Dergleichen Dinge. Versuchen Sie’s mal hiermit: sieben Buchstaben, doppelter Druck«.«
»Schon geb ich auf.«
»>Schmitz<. Der Begriff kommt aus der Druckersprache. Ein bißchen irreführend zwar, aber es paßte so schön. Auf ein neues: >Doppelsinn<. Elf Buchstaben.«
»Henry, würden Sie damit aufhören ?«
»>Ambiguität<. Ich leg es Ihnen vor die Tür.«
»Nur nicht. Diese Sachen setzen sich mir in den Kopf, und ich werde sie nicht mehr los.«
Er
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