Kinsey Millhone 02- In aller Stille
Sie ist sechsunddreißig, alleinstehend und sammelt Männer mit Leichtigkeit, obwohl ihr nie einer richtig zu passen scheint. Ich schielte in ihre Kabine.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?« fragte ich, als ich sie sah.
»Ich war die ganze Nacht auf. Es ist eine Perücke«, sagte sie. Sie steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Zähne und biß leicht darauf, als sie sie anzündete. Ich habe schon immer ihren Rauchstil bewundert. Er ist locker und exquisit, graziös und kräftig. Sie deutete auf die Perücke, die blondgesträhnt war und einen Windstoß-Effekt hatte.
»Ich denke darüber nach, meine Haare so zu färben. Ich war schon seit Monaten keine Blondine mehr.«
»Mir gefällt’s«, erwiderte ich. Ihre übliche Haarfarbe war goldbraun, eine Mischung aus verschiedenen Clairol-Angeboten, die im Farbton von Funkelnder Sherry bis Feurige Flamme variierte. Ihre Brille hatte heute einen Schildpattrahmen und große runde Gläser in der Farbe von Eistee. Brillen standen ihr so gut, daß sich andere Frauen bei ihrem Anblick wünschten, daß auch ihre Sehkraft nachließe.
»Es muß einen neuen Mann in deinem Leben geben«, sagte ich.
Vera zuckte ablehnend die Achseln und schüttelte den Kopf. »Eigentlich sind es sogar zwei, aber es war nicht so, wie du denkst. Ich habe ein Buch darüber gelesen, wie die neuen Technologien funktionieren. Laser und Geräte, die Analoges in Digitales umwandeln. Verstehst du, gestern wurde ich neugierig auf Elektrizität. Dabei stellt sich heraus, daß niemand wirklich weiß, was es ist. Beunruhigend, wenn du mich fragst. Aber eine großartige Terminologie: >Impuls-Amplitude< und >Oszillation<. Vielleicht treffe ich mal einen, dem ich diese Worte sagen kann. Was ist mit dir? Willst du eine Cola?«
Sie hatte schon die unterste Schrankschublade geöffnet, in der sie einen kleinen, mit Eisstücken vollgepackten Kühleimer aufbewahrte. Sie nahm eine Flasche Cola in der Größe einer Babyflasche heraus und öffnete sie, indem sie sie unter dem Schubladengriff aus Metall verkeilte und eine schnelle Abwärtsbewegung machte. Sie bot mir die Flasche an, aber ich schüttelte den Kopf, und sie trank sie selbst aus. »Setz dich doch«, sagte sie dann und stellte die Flasche mit einem Knall auf den Schreibtisch.
Ich ging an einem Stapel Akten vorbei und setzte mich in den zweiten Stuhl. »Was weißt du über eine Frau namens Marty Grice, die vor sechs Monaten umgebracht wurde? Ich hörte, sie sei bei CF versichert gewesen.«
Vera fuhr sich leicht mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. »Sicher, ich habe diesen Fall zugeteilt bekommen. Ich fuhr hinaus und sah mir den Ort zwei Tage nach dem Unglück an. Mein Gott, war das ein Durcheinander. Ich habe den Schadensnachweis noch nicht, aber Pam Sharkey sagt, sie wird ihn mir in den nächsten Wochen zukommen lassen.«
»Ist sie die Vertreterin?«
Vera nickte und zog an ihrer Zigarette. Sie blies den Rauch gerade hoch. »Die große Lebensversicherung war bereits abgelaufen, aber es gab eine kleine, gültige Zweitausendfünfhundert-Dollar-Police. Das reicht heutzutage nicht mal mehr, um einen Hund beerdigen zu lassen. Es gab außerdem eine Hausratversicherung für den Feuerschaden, aber der Mann war hoffnungslos unterversichert. Pam schwört sämtliche Eide, daß sie ihm geraten hatte, sich höher einstufen zu lassen, aber er wollte sich nicht mit den zusätzlichen Kosten belasten. Du weißt ja, wie die Leute sind. Sie versuchen, sechs Dollar zu sparen, und haben schließlich zwei-, dreihunderttausend in den Wind gesetzt, wenn sie mal den Boden unter den Füßen verlieren.« Sie schlug mit der Zigarette leicht auf den Rand der leeren Colaflasche und klopfte ordentlich die Asche hinein.
»Warum dauert die Erledigung der Sache so lange?«
Veras Mundwinkel zogen sich nach unten, und sie senkte ein Augenlid — eine Miene, die besagen sollte: »Viel Lärm um nichts«, obwohl ich mir nicht sicher war. »Wer weiß?« sagte sie. »Man hat ein Jahr Zeit, den Antrag zu stellen. Pam sagt, er ist total fertig, seit seine Frau starb. Er kann kaum noch seinen eigenen Namen schreiben.«
»Hat sie ein Testament hinterlassen?«
»Nicht, daß ich wüßte. Die ganze Sache liegt sowieso seit den letzten fünf Monaten beim Nachlaßgericht. Was hast du für ein Interesse daran? Untersuchst du ihren Tod?«
»Eigentlich nicht. Ich suche eine Frau, die nebenan gewohnt hat, als es geschah. Sie hat ein paar Tage später die Stadt verlassen und wurde
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