Kinsey Millhone 02- In aller Stille
hatten«, meinte er. »Dies ist die Küche.«
»Habe ich mir beinah gedacht.«
Es war ein hübsches Haus. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber hier hatte jemand guten Geschmack bewiesen. Die ganze Wohnung hatte etwas Offenes an sich: nackte, schimmernde Holzfußböden, Möbel mit klaren Linien, saubere Oberflächen. Warum hatte Camilla all dies verlassen? Wonach suchte sie denn noch?
Er zeigte mir drei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, einen überdachten Raum hinterm Haus und einen kleinen Hof, umrandet von einer weinbedeckten Gipswand.
»Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen«, begann er. »Als sie ausgezogen war, habe ich ihren ganzen Krempel zusammengepackt und ihn von der Heilsarmee abholen lassen. Ich wollte nicht dasitzen und mir ständig ihren ganzen Schickimicki-Schnickschnack anschauen. Die Räume der Kinder hab ich gelassen, wie sie waren. Vielleicht wird sie ihrer ja mal überdrüssig, so wie sie meiner überdrüssig geworden ist, und schickt sie zurück, aber ihren Kram brauche ich nicht. Sie war ganz schön irritiert, als sie davon hörte, aber was sollte ich denn machen?« Er zuckte die Achseln und stand da, die Bierflasche am Hals umfaßt.
Nun, da ich ihn zweimal gesehen hatte, nahm sein Gesicht langsam Form an. Vorher hatte ich bloß Eigenschaften wie »sanft« und »harmlos« registriert. Mir war das Übergewicht, das er mit sich herumschleppte, aufgefallen, und daß seine Persönlichkeit aus etwas Nettem, gemischt mit etwas Komischem bestand. Er war offen, und dafür war ich empfänglich, aber er hatte auch einen Charakterzug, den ich vorher schon bei anderen Cops festgestellt hatte: ein gedankenverlorenes Selbstbewußtsein, als schaute er aus großer Entfernung auf die Welt zurück; aber bei ihm war es nicht so schlimm. Camilla war immer noch von sichtlich großer Bedeutung für sein Leben, und er lächelte jedesmal, wenn er von ihr sprach, aber nicht aus Zuneigung, sondern um seine Wut zu verbergen. Ich dachte, er müßte noch ein paar mehr Frauen erleben, bevor er sich mit mir befaßte.
»Was ist das? Was bedeutet dieser Blick?« fragte er.
Ich lächelte. »Vorsicht! Bissiger Hund!« erwiderte ich.
Mir war nicht klar, ob ich über ihn oder über mich sprach.
Er lächelte ebenfalls, aber er wußte, was ich meinte. »Hier liegt der Kram.«
Er deutete auf den Eßtisch, der in einer Nische gleich neben dem Wohnzimmer stand.
Ich setzte mich in einen heißen Kranz aus Licht und kam mir vor wie ein Vielfraß mit der Serviette unter das Kinn geklemmt, Messer und Gabel in den Fäusten. Außer den fotokopierten Berichten hatte er es noch geschafft, einige doppelte Fotografien zu besorgen. Ich würde die Auswirkungen des Verbrechens mit eigenen Augen sehen, und ich konnte es kaum noch erwarten.
14
Ich las mir alles schnell durch, um erst einmal einen Überblick zu bekommen. Dann fing ich noch mal an und notierte mir die Details, die mich interessierten. Die offizielle Version der Geschichte, soweit sie mir bekannt war, und die Befragungen von Leonard Grice, seiner Schwester Lily, Nachbarn, dem Einsatzleiter der Feuerwehr und dem zuerst am Tatort eingetroffenen Polizisten hatten im großen und ganzen nicht mehr ergeben, als ich selbst schon wußte: Leonard und Marty sollten mit Leonards verwitweter Schwester, Mrs. Howe, zu ihrem traditionellen Dienstagabend-Essen ausgehen. Marty fühlte sich nicht gut und sagte in letzter Minute ab. Leonard und Lily gingen wie geplant aus und kehrten gegen neun Uhr abends zu den Howes zurück. Zu dem Zeitpunkt riefen sie Marty an, um Bescheid zu sagen, daß sie wieder zu Hause waren. Sowohl Mr. Grice als auch seine Schwester sprachen mit Marty, die schließlich das Gespräch beendete, um auf ein Klopfen an der Tür zu reagieren. Laut Lily und Leonard hatten sie noch eine Tasse Kaffee getrunken und ein bißchen geplaudert. Um ungefähr zehn Uhr verließ er sie und kam zirka zwanzig Minuten später in der Via Madrina an, um festzustellen, daß sein Haus niedergebrannt war. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer unter Kontrolle, und man holte die Leiche seiner Frau aus dem teilweise zerstörten Gebäude. Er brach zusammen und wurde von anwesenden Medizinstudenten wieder zu Bewußtsein gebracht. Tillie Ahlberg war es gewesen, die den Rauch entdeckt hatte und um 21.55 Uhr Alarm gab. Sofort rückten zwei Einheiten an, aber aufgrund der Ausbreitung des Feuers war der Zugang durch die Vordertür nicht möglich. Die Feuerwehrmänner hatten die hintere Tür aufgebrochen
Weitere Kostenlose Bücher