Kinsey Millhone 02- In aller Stille
mich abzuwenden, meine Seele vor dem Anblick zu schützen, aber dies war der einzige greifbare Bericht von diesem Geschehen, und den mußte ich selbst sehen. Kühlen Blickes schaute ich mir die erste Schwarz-Weiß-Fotografie an. Die Farbfotos würden noch schlimmer sein, und ich zog es vor, mit den »leichteren« anzufangen.
Jonah räusperte sich. Ich blickte auf.
»Ich muß jetzt ins Bett«, meinte er. »Ich bin kaputt.«
»Schon?« Ich sah auf meine Uhr und war überrascht. Es war Viertel vor elf. Ich hatte seit über zwei Stunden bewegungslos dagesessen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung, daß ich schon so lange hier bin.«
»Schon gut. Ich bin heute morgen um fünf Uhr aufgestanden, um mich fit zu machen, und brauche jetzt ein Schläfchen. Sie können das Zeug mitnehmen, wenn Sie wollen. Sollte Sie Dolan jemals damit erwischen, werde ich natürlich alles abstreiten und Sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen, aber mal davon abgesehen hoffe ich, es hilft Ihnen.«
»Danke. Es hat mir jetzt schon geholfen.« Ich steckte erst die Fotografien und Berichte in einen großen braunen Umschlag, und den dann wiederum in meine Handtasche.
Verstört fuhr ich nach Hause. Selbst jetzt hatte ich noch das in mein Gedächtnis eingegrabene Bild von Martys Leiche vor Augen: ihre durch das Verkohlen verschwommenen Züge, den offenen Mund und wie sie in einem Ring aus Asche lag, der aussah wie ein Haufen graues Konfetti. Die Hitze hatte ihre Armsehnen zusammengezogen und die Fäuste in eine Art Boxhaltung gebracht. Es war ihr letzter Kampf gewesen, und sie hatte ihn verloren, aber ich glaube nicht, daß er schon vorbei war.
Ich wischte das Bild beiseite und ging noch mal durch, was ich bisher erfahren hatte. Eine kleine Einzelheit beschäftigte mich noch. War es möglich, daß May Snyder recht hatte, als sie von dem hämmernden Peng-peng-peng an jenem Abend sprach? Wenn ja, was um alles in der Welt könnte das gewesen sein?
Fast wieder zu Hause angekommen, fiel mir die Hütte auf Grices Hof wieder ein. Ich stieg auf die Bremse und drehte hart links ab, Richtung Stadtmitte.
Die Via Madrina war dunkel, weil sie von italienischen Pinien überschattet wurde. Um diese Zeit gab es nicht mehr viel Verkehr. Der Nachthimmel war diesig, und obwohl Vollmond war, wurde das durchsickernde Licht teilweise von der Wohnanlage nebenan verdeckt. Ich parkte und nahm eine Minitaschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann zog ich ein Paar Gummihandschuhe an, schloß den Wagen ab und ging Grices Eingangsweg hinauf. Ich lief um das Haus herum. Meine Tennisschuhe verursachten keinerlei Geräusch auf dem Beton.
In meiner Jackentasche fühlte ich den Dietrich, der wie eine abgeflachte Mandoline aus Metall geformt war. Ich hatte ein Set, bestehend aus fünf Schlüsseln an einem Schlüsselring, bei mir und ein zweites, ausgefeilteres in einem hübschen Lederetui zu Hause. Ich hatte sie von einem nicht ortsansässigen Einbrecher, der zur Zeit zehn Monate im Landesgefängnis absaß. Als er das letzte Mal erwischt worden war, hatte er mich engagiert, um ein Auge auf seine Frau zu halten, von der er dachte, daß sie ihn mit dem Typen von nebenan betrüge. Tatsächlich war aber gar nichts gelaufen. Er war so dankbar über die frohe Nachricht, daß er mir die Dietriche schenkte und mich den Umgang mit ihnen lehrte. Er hatte mir auch etwas Bargeld gezahlt, aber dann stellte sich heraus, daß er es gestohlen hatte, und er mußte es zurückfordern, nachdem das Gericht ihm die Wiedergutmachung auferlegt hatte.
Es war kühl, und eine lebhafte kleine Brise flüsterte in den Pinienzweigen. Das Haus hinter dem der Grices hatte Leinwandmarkisen, die wie Segel schlugen, und das dumpfe Seufzen des trockenen Grases gab dem ganzen Unternehmen eine unheimliche Kulisse. Ich war sowieso noch nervös, weil ich mir gerade Bilder einer gerösteten Leiche angesehen hatte. Und nun war ich hier, kurz vor einer kleinen Einbruchsnummer, die mich in den Knast bringen und meine Lizenz kosten konnte. Wenn die Nachbarn zu einem Geheul ansetzten, und die Cops auf der Szenerie erschienen, was würde ich sagen? Warum machte ich das überhaupt? Ah ja, weil ich wissen wollte, was sich in diesem winzigen Metallhäuschen befand, und mir keine andere Möglichkeit einfiel, hineinzukommen.
Ich hielt den kleinen Lichtstrahl auf das Vorhängeschloß gerichtet. In der Skizze, die mein Einbrecherfreund mir von einem Schloß wie diesem gemalt hatte, gab es eine flache Haarnadelfeder, die
Weitere Kostenlose Bücher