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Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke

Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke

Titel: Kinsey Millhone 05 - Kleine Geschenke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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meiner Anatomie schmerzten. Zuerst dachte ich, ich wäre ans Bett geschnallt, aber es entpuppte sich als eine bewegungsunfähig machende Kombination aus Prellungen, Infusionen, Schmerzmitteln und Druckverbänden an den Stellen, an denen ich Verbrennungen erlitten hatte. Wenn man bedachte, daß ich nur drei Meter von Olive entfernt gestanden hatte, waren meine Verletzungen wunderbar gering — eine leichte Gehirnerschütterung, Prellungen und Quetschungen, Hautabschürfungen und leichte Verbrennungen an Armen und Beinen. Ich war in erster Linie des Schocks wegen ins Krankenhaus eingeliefert worden.
    Ich war noch immer verwirrt, wußte nicht genau, was passiert war, aber man brauchte keinen übermäßig hohen Intelligenzquotienten, um zu begreifen, daß etwas mit lautem Knall hochgegangen war. Eine Casexplosion? Wohl eher eine Bombe. Der Knall und die Wucht waren beide typisch dafür. Ich weiß jetzt, weil ich es nachgeschlagen habe, daß Sprengstoffexplosionen Ausbreitungsgeschwindigkeiten von mehr als tausend Metern pro Sekunde erreichen können, was ja erheblich schneller ist, als sich der Durchschnittsmensch bewegt. Das kurze Stück von Olives Veranda bis zum Baum war das Beste an Freiflug, was ich je im Leben bekommen werde.
    Die Ärztin trat ein. Sie war eine schlichte Frau mit gütigem Gesicht und genügend Menschenverstand, um Daniel aus dem Zimmer zu schicken, während sie mich untersuchte. Sie gefiel mir schon deshalb, weil sie nicht mit offenem Mund stehenblieb, als sie ihn sah. Ich beobachtete sie, kam mir vor wie ein vertrauensseliges Kind, während sie meine Reflexe prüfte. Sie mußte Ende Dreißig sein, ohne Make-up, mit wirrem Haar und grauen Augen, die Mitgefühl und Intelligenz ausdrückten. Sie hielt meine Hand, verschränkte ihre kühlen Finger mit meinen. »Wie fühlen Sie sich?«
    Tränen schossen mir in die Augen. Das Gesicht meiner Mutter überlagerte das ihre, und ich war wieder vier Jahre alt, und mir tat der Hals weh wie nach einer Mandeloperation. Ich hatte die Herzlichkeit und Wärme vergessen, die die Menschen verströmen, die Kranke versorgen. Ich empfing so viel Zärtlichkeit, wie ich sie seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr gekannt hatte. Ich kann mit Hilflosigkeit nicht gut umgehen. Ich habe in meinem Leben hart gearbeitet, um jegliches Bedürfnis zu leugnen, und da war ich nun, unfähig, die Rolle der Harten, Kompetenten weiter aufrechtzuerhalten. In gewisser Hinsicht war es eine große Erleichterung, hier zu hegen und mich einfach ihr zu überlassen.
    Als sie mit ihrer Untersuchung fertig war, war ich etwas wacher und wollte Genaueres wissen. Ich fragte sie etwas undeutlich aus, versuchte herauszubekommen, wie mein derzeitiger Zustand war.
    Sie erzählte mir, ich läge in einem Einzelzimmer im St. Terrys Hospital und wäre am Vorabend vom Notarzt eingeliefert worden. Ich erinnerte mich bruchstückhaft daran: das hohe Pfeifen der Sirenen, als der Krankenwagen um Kurven bog, das grelle weiße Licht über mir im Untersuchungszimmer, das Gemurmel des Krankenhauspersonals. Ich erinnerte mich daran, wie beruhigend es war, als ich schließlich in mein Bett gesteckt wurde: sauber, verbunden, vollgepumpt mit Medikamenten und ohne Schmerzen. Jetzt war es später Vormittag, am Neujahrstag. Ich war noch immer benommen, und zu spät erkannte ich, daß ich wegdämmerte, ohne es überhaupt zu merken.
    Als ich das nächstemal aufwachte, war die Infusionsflasche entfernt worden, statt der Ärztin war jetzt eine Hilfsschwester da, die mir auf die Bettpfanne half, mich wieder säuberte und mein Nachthemd wechselte, das Bett frisch bezog und mich in eine sitzende Stellung aufrichtete, so daß ich die Welt um mich her sehen konnte. Es war fast Mittag. Ich war am Verhungern und schlang einen Teller Kirschpudding hinunter, den sie irgendwo aufgetrieben hatte. Das half mir, bis die Essenswagen auf die Etage gebracht wurden. Daniel war nach unten in die Krankenhauscafeteria gegangen, um zu essen, und bevor er zurückkam, hatte ich darum gebeten, ein Schild »Keine Besuche« an die Tür zu hängen.
    Für Lieutenant Dolan schien das Schild nicht zu gelten, denn das nächste, an das ich mich erinnere, ist, daß er auf dem Stuhl saß und eine Zeitschrift durchblätterte. Er war über fünfzig, ein großer, ungelenker Mann mit abgestoßenen Schuhen und einem leichten, beigen Anzug. Er wirkte erschöpft, von den Querfalten auf seiner Stirn bis zu seinen Hängebacken, die schlecht rasiert waren. Sein spärliches

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