Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
»Nein, eigentlich nicht. Aber ebenso wenig Grund habe ich für die Annahme, dass sie noch lebt.«
Ich kramte ein kleines Notizbuch aus der Handtasche und blätterte ein paar Seiten durch. Was ich da zu Rate zog, war eine alte Einkaufsliste, die Dietz, der mir über die Schulter blickte, interessiert studierte. Dann warf er mir einen sanftmütigen Blick zu. Ich sagte: »In der Akte der Agentur wird eine gewisse Anne Bronfen erwähnt. Ist das vielleicht Ihre Schwester? Die Akte war im Hinblick auf verwandtschaftliche Beziehungen ein bisschen lückenhaft. Anne wurde in den Formularen als nächste Verwandte genannt.«
»Nun ja, ich hatte tatsächlich eine Schwester, die Anne hieß, aber sie ist 1940 gestorben — drei oder vier Monate nachdem Sheila weggegangen war.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Sind Sie sicher?«
»Sie ist in Mt. Calvary beerdigt. Wir haben dort auf dem Hügel ein großes Familiengrab, gleich hinter dem Friedhofstor. Sie war erst vierzig, eine schreckliche Sache.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist am Kindbettfieber gestorben. Heutzutage gibt es das nicht mehr, aber damals ist es noch vorgekommen und hat manche Frau das Leben gekostet. Sie hatte erst spät geheiratet. Einen Burschen namens Chapman aus der Nähe von Tuscon. Bekam schnell hintereinander drei Söhne und starb kurz nach der Geburt des dritten. Ich habe ihre Überführung bezahlt. Konnte es nicht ertragen, sie in diesem gottverlassenen Dorf in Arizona begraben zu wissen. Das Land ist zu hässlich und zu trocken.«
»Besteht die Möglichkeit, dass sie in diesen wenigen Monaten etwas von Sheila gehört hatte?«
Er schüttelte den Kopf. »Davon hat sie mir nichts gesagt. Als Sheila durchbrannte, lebte Anne in Tuscon. Vielleicht ist Sheila zu ihr gegangen, aber ich habe nie etwas darüber erfahren. Wie wäre es, wenn jetzt Sie mir eine Frage beantworten würden? Was ist aus der alten Frau geworden, die aus dem Pflegeheim weggelaufen ist? Sie haben mir noch nicht gesagt, ob sie wieder aufgetaucht ist.«
»Ja, sie wurde gefunden, gestern Abend gegen elf Uhr. Die Polizei hat sie aufgelesen, direkt hier in der Straße. Bald darauf ist sie in der Notfallstation gestorben.«
»Sie ist gestorben? Das tut mir aber Leid.«
Wir verabschiedeten uns mit den üblichen Floskeln und gingen. Auf dem Weg zum Wagen sagte Dietz kein Wort. Er sperrte die Tür auf, und ich stieg ein. Als auch er auf seinem Platz saß, schwiegen wir noch eine ganze Weile. Dann schaute er zu mir herüber. »Was hast du für einen Eindruck?«
Ich blickte zum Haus zurück. »Aus irgendeinem Grund glaube ich, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat.«
Er ließ den Motor an. »Mir geht es genauso. Wir sollten uns mal dieses Familiengrab ansehen.«
25
Sie waren alle da. Es war unheimlich, sie zu sehen, Charlotte, Emily und Anne — ihre Grabsteine waren nach dem Sterbedatum aufgereiht. Die Inschriften waren mehr als schlicht, nur die allernötigsten Informationen. Ihre Eltern waren Seite an Seite beerdigt worden: Maude und Herbert, links von ihnen die Gräber zweier Töchter, die sehr jung gestorben waren. Die nächste Grabstelle war noch frei, vermutlich für Patrick bestimmt, wenn seine Zeit gekommen war. Auf der anderen Seite lagen die drei, von denen ich wusste: Charlotte, geboren 1894, gestorben 1917; Emily, geboren 1897, gestorben 1926; und Anne, die anno 1900 geboren und 1940 gestorben war.
Ich blickte den Hügel hinunter in die Ferne. Mt. Calvary bestand aus einer Reihe welliger Grünflächen und endete an einem Wald aus immergrünen Hölzern und Eukalyptusbäumen. Die meisten Grabsteine waren flach in den Boden eingelassen, aber es gab auch andere Abschnitte, so wie hier, wo die Steine aufrecht standen; die eingemeißelten Daten reichten zum großen Teil bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Die Hitze der Mittagssonne schwand allmählich. Es würde noch stundenlang hell sein, aber merklich kühler werden. Irgendwo in den Bäumen saß ein Vogel und pfiff eine eintönige Melodie.
Ich schüttelte den Kopf, bemüht, die Informationen in meinem Gedächtnis zu speichern.
Dietz war vernünftig genug, den Mund zu halten, aber die Frage: »Was ist?« lag so deutlich in seinem Blick, als habe er sie ausgesprochen.
»Das ist doch widersinnig. Wenn Sheila Bronfen und Agnes Grey ein und dieselbe sind, warum stimmen dann die Altersangaben der beiden nicht überein? Agnes kann nicht erst siebzig gewesen sein, als sie starb. Sie war über achtzig. Das weiß
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