Kinsey Millhone 08 - Sie kannte ihn fluechtig - F wie Faelschung
zu einem schweigsamen, verschlossenen Jungen gemacht. Auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Krise in den zwanziger Jahren war er gerade neunzehn Jahre alt. Er hatte gehört, dass es auf den Ölfeldern Kaliforniens Arbeit gebe, denn südlich von Los Angeles wuchsen die Bohrtürme wie Pilze aus dem Boden. Und er machte sich auf den Weg nach Westen. Oribelle hatte er unterwegs kennen gelernt, als er in einer Baptistenkirche in Fayetteville, Arkansas, ein billiges Abendessen erhielt. Sie war damals achtzehn und krank und hatte sich bereits mit einem Leben in Abhängigkeit von Insulin und der Kirche abgefunden. Sie arbeitete im Futtermittelhandel ihres Vaters, und ihre größte Freude war die alljährliche Reise zum Maultiermarkt in Fort Smith.
Royce war an jenem Mittwochabend in der Kirche erschienen, nachdem er auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit von seinem Reisegefährt, einem Güterzug, abgesprungen war. Ann sagte, Ori erzähle noch heute von ihrer ersten Begegnung, als er breitschultrig und mit strohfarbenem Haar im Kirchenportal gestanden hatte. Er war in der Schlange der Wartenden an der Essensausgabe vorbeigezogen und hatte sich Berge von Makkaroni mit Käse, Oris Spezialität, auf den Teller gehäuft. Ori hatte ihn angesprochen, und gegen Ende des Abends kannte sie seine Lebensgeschichte und lud ihn nach Hause ein. Er schlief im Schuppen und nahm an den Mahlzeiten der Familie teil. Er blieb zwei Wochen, und Oribelle litt während dieser Zeit an solch fiebrigen Hormonschüben, dass sie zweimal kurz vor dem Zuckerkoma stand und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Ihre Eltern nahmen das als Beweis für den bösen Einfluss, den Royce auf die Tochter ausübte. Sie redeten lange und eingehend auf sie ein, von ihm zu lassen, doch nichts konnte sie umstimmen. Sie wollte Royce heiraten. Als sich der Vater entschieden gegen die Verbindung stellte, nahm sie all das Geld, das für ihre Sekretärinnenausbildung auf die Seite gelegt worden war, und brannte mit ihm durch. Das war im Jahr 1932.
»Ich kann mir die beiden kaum als leidenschaftlich verliebtes Paar vorstellen«, bemerkte ich.
Ann lächelte. »Ich auch nicht. Ich muss Ihnen Fotos zeigen. Sie ist ein schönes Mädchen gewesen. Natürlich bin ich erst sechs Jahre später... 1938... geboren, und Bailey kam fünf Jahre nach mir. Falls sie je so was wie Leidenschaft füreinander empfunden haben, war zu dieser Zeit schon Schluss damit. Trotzdem verbindet sie noch immer viel. Komischerweise waren wir alle davon überzeugt, dass sie lange vor ihm sterben würde... und jetzt wird es wohl umgekehrt sein.«
»Was fehlt ihm denn eigentlich?«
»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte geben ihm noch ein halbes Jahr.«
»Und das weiß er?«
»O ja. Deshalb ist er ja so glücklich, dass Bailey plötzlich wieder aufgetaucht ist. Er redet von gebrochenem Herzen, aber das ist Unsinn.«
»Und was ist mit Ihnen? Wie stehen Sie dazu?«
»Ich bin eigentlich erleichtert. Selbst wenn er wieder ins Gefängnis muss, habe ich doch jemanden, der mir hilft, die kommenden sechs Monate zu überstehen. Seit Bailey untergetaucht war, hatte ich die ganze Verantwortung für die Eltern.«
»Und wie hat Ihre Mutter das alles aufgenommen?«
»Es macht sie kaputt. Durch die Zuckerkrankheit ist ihre Gesundheit sehr labil. Jede Aufregung bringt sie aus dem Gleichgewicht. Der Stress. Ich schätze, er macht uns allen zu schaffen... mich eingeschlossen. Seit ich weiß, dass Pop sterben wird...«
»Sie haben mal erwähnt, dass Sie sich vorübergehend von Ihrem Job haben beurlauben lassen.«
»Es blieb mir nichts anderes übrig. Irgendjemand muss rund um die Uhr hier anwesend sein. Und da wir uns eine Pflegerin nicht leisten können, muss ich eben herhalten.«
»Das ist hart für Sie.«
»Es gibt Leute, denen es schlechter geht.«
Ich wechselte das Thema. »Haben Sie einen Verdacht, wer Jean Timberlake wirklich umgebracht haben könnte?«
Ann schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste es. Sie war Schülerin an meiner Highschool und Baileys Freundin.«
»Ist sie viel hier gewesen?«
»Ziemlich. Das wurde erst nach Baileys Entlassung aus der Haft weniger.«
»Und Sie sind überzeugt, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat?«
»Ich weiß langsam nicht mehr, was ich glauben soll«, erwiderte sie müde. »Ich will nicht glauben, dass er’s gewesen ist. Andererseits finde ich den Gedanken, dass der Killer noch immer frei rumläuft, nicht gerade angenehm.«
»Dem gefällt das
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