Kinsey Millhone 08 - Sie kannte ihn fluechtig - F wie Faelschung
wusste sie jetzt, dass ich mit Royce gekommen war. Als ich wieder in ihre Richtung sah, ruhte ihr Blick unverhohlen abschätzend auf Royce. Offenbar versuchte sie abzulesen, wie lange er wohl noch zu leben hatte.
Noch eine andere Frau erregte meine Aufmerksamkeit. Sie kam den Mittelgang herunter, Anfang dreißig, blass, hager, in einem aprikotfarbenen Strickkleid mit einem großen Fleck knapp über dem Saum. Dazu hatte sie eine weiße Jacke, weiße Schuhe mit hohen Absätzen und weiße Baumwollsöckchen an. Ihr Haar war platinblond und wurde von einem breiten, billig aussehenden Band aus der Stirn gehalten. Sie war in Begleitung eines Mannes, in dem ich den Ehemann vermutete. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er hatte lockiges blondes Haar und jenes puttenhafte Aussehen, das ich bei Männern noch nie gemocht hatte. Bei ihnen war Pearl, sodass ich mich unwillkürlich fragte, ob der junge Blonde der Sohn war, von dem Pearl erzählt hatte, der Bailey in der Mordnacht mit Jean Timberlake gesehen hatte.
Hinten im Saal wurde das Stimmengemurmel plötzlich lauter, und ich drehte mich um. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war wie bei einer Hochzeit, wenn die Braut erscheint, auf den Saaleingang gerichtet, durch den gerade die Häftlinge hereingeführt wurden. Ihr Anblick war seltsam beklemmend: neun Männer in Handschellen, aneinandergekettet; sie schlurften in Fußketten den Mittelgang entlang und trugen Anstaltskleidung: lose orangefarbene Anstaltshemden, hellgraue, dunkelgraue oder hellblaue Baumwollsocken und Plastiksandalen, die man im Häftlingsjargon »Schleicher« nannte. Die meisten waren sehr jung: fünf Latinos und drei Schwarze. Bailey war der einzige Weiße. Er wirkte entsetzlich verlegen, hatte hochrote Backen und den Blick niedergeschlagen. Er war der bescheidene Star dieser Gangstertruppe. Seine Mithäftlinge schienen die Prozedur gelassener zu nehmen und nickten Freunden und Verwandten im Publikum zu. Die meisten der Zuschauer waren allerdings wegen Bailey Fowler gekommen, und niemand machte Anstalten, ihm seinen Status streitig zu machen. Ein Hilfssheriff in Uniform führte die Männer zur Geschworenenbank, wo man ihnen die Fußketten abnahm für den Fall, dass sie zum Richtertisch gerufen wurden. Anschließend nahmen die Häftlinge Platz und harrten wie wir anderen der Dinge, die da kommen mochten.
Die Gerichtsdienerin forderte uns mit der üblichen Formel auf, uns zu erheben, was wir befolgten, als der Richter den Saal betrat und sich auf seinem Stuhl niederließ. Richter McMahon war ungefähr Mitte vierzig und schien vor Energie und Tüchtigkeit zu platzen. Er war schlank, blond und sportlich, sah aus wie jemand, der Handball und Squash spielte und Gefahr lief, trotz blendender Gesundheit eines Tages einem Herzinfarkt zu erliegen. Baileys Fall sollte als vorletzter verhandelt werden, sodass wir noch eine Menge juristischen Kleinkrieg erleben sollten, bis es so weit war. Ein Übersetzer musste eiligst von irgendwoher aus dem Justizgebäude herbeigeholt werden, da zwei Angeklagte des Englischen nicht mächtig waren. Dann waren Protokolle verschwunden oder falsch abgelegt worden. Zwei Verhandlungen wurden vertagt. Eine Akte war geschickt worden, aber nicht angekommen, und der Richter war wütend, weil der Staatsanwalt keinen Beleg für die Zustellung besaß und die Gegenseite noch nicht vorbereitet war. Zwei zusätzliche Beschuldigte waren auf Gerichtsbeschluss vorläufig freigelassen worden und saßen nun unter den Zuschauern. Sie mussten jeweils vortreten, als ihr Fall aufgerufen wurde.
Ein andermal zog der Hilfssheriff einen Schlüsselbund aus der Tasche und nahm einem der Häftlinge die Handschellen ab, damit dieser hinten im Saal ungestört mit seinem Verteidiger sprechen konnte. Während dieses Gespräch andauerte, verwickelte ein anderer Häftling den Richter in einen längeren Disput. Er beharrte darauf, seine Verteidigung selbst zu übernehmen. Richter McMahon war entschieden dagegen und brachte gut zehn Minuten damit zu, dem Mann zuzureden, zu drohen und zu schimpfen. Der Häftling ließ sich letztendlich doch nicht umstimmen, und der Richter war von Rechts wegen gezwungen, dem Wunsch des Beschuldigten stattzugeben, zeigte sich jedoch sichtlich verärgert. In der Zwischenzeit war das Publikum merklich unruhiger geworden. Man begann sich leise zu unterhalten und zu lachen. Alle warteten auf die Hauptattraktion des Tages und mussten diese Serie von drittklassigen Einbruchs- und Sexualdelikten
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