Kinsey Millhone 08 - Sie kannte ihn fluechtig - F wie Faelschung
damit ihr Blutzuckerspiegel auf dem richtigen Niveau blieb. Ann hatte eine Rindfleischkasserolle mit Salat und Weißbrot zubereitet. Es schmeckte hervorragend. Royce hatte Probleme mit dem Essen. Seine Krankheit hatte ihm nicht nur die Kraft, sondern auch den Appetit genommen, und eine tief sitzende innere Unruhe machte ihm menschliche Gesellschaft schwer erträglich. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es gewesen sein mochte, bei einem Mann wie Royce aufzuwachsen. Er war schroff bis an die Grenze der Unhöflichkeit, es sei denn, Baileys Name wurde erwähnt; dann wurde er plötzlich sentimental und versuchte es nicht einmal zu verbergen. Ann reagierte auf die deutliche Bevorzugung ihres Bruders nicht sichtbar. Allerdings hatte sie mittlerweile Zeit genug gehabt, sich daran zu gewöhnen. Ori, die stets darauf bedacht war, dass Royces Krankheit nicht ernster genommen wurde als ihre eigene, stocherte lustlos auf ihrem Teller herum. Sie beklagte sich zwar nicht, stöhnte jedoch hörbar. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich »miserabel« fühlte, und Royces Weigerung, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, spornte sie nur dazu an, ihre Bemühungen um Aufmerksamkeit noch zu verdoppeln. Ich verhielt mich so unauffällig wie möglich und versuchte, den Wortlaut der Unterhaltung zu überhören, um mich ganz darauf konzentrieren zu können, wie diese drei miteinander umgingen. Als Kind hatte ich ein normales Familienleben kaum erlebt, und normalerweise stößt es mich, aus der Nähe betrachtet, eher ab. Eine Familienidylle im Fernsehserienstil war das hier bestimmt nicht. Man redet so oft über »gestörte« Familienverhältnisse. Ich kenne keine anderen. Ich fuhr meine Antennen noch weiter aus.
Ori legte die Gabel beiseite und schob den Teller von sich. »Maxine kommt morgen. Ich bereite lieber schon alles vor.«
Ann hatte beobachtet, wie viel Ori gegessen hatte, und ich sah ihr an, dass sie mit sich kämpfte, ob sie etwas sagen sollte. »Ich dachte, sie kommt jetzt montags.«
»Ich habe sie gebeten, einen Tag zusätzlich zu kommen. Zeit für den Frühjahrsputz.«
»Das ist doch nicht nötig, Mutter. Kein Mensch macht mehr Frühjahrsputz.«
»Ich weiß, dass es sein muss. Hier sieht’s furchtbar aus. Überall Staub und Schmutz. Das geht mir auf die Nerven. Ich mag gebrechlich sein, aber deshalb weiß ich doch noch, wie man ein Haus führt.«
»Niemand hat das Gegenteil behauptet.«
Ori hackte weiter in die Kerbe. »Ich bin noch immer zu was nütze, auch wenn das keiner anerkennt.«
»Selbstverständlich erkennen wir das an«, murmelte Ann pflichtschuldigst. »Um wie viel Uhr kommt sie?«
»So um neun«, antwortete Ori. »Wir müssen hier mal alles von oben nach unten kehren.«
»Um mein Zimmer kümmere ich mich selbst!«, bat Ann sich aus. »Das letzte Mal hat sie in all meinen Sachen herumgewühlt.«
»Das würde sie bestimmt nie tun. Außerdem habe ich ihr schon gesagt, dass da der Fußboden gemacht und die Vorhänge gewaschen werden müssen. Ich kann doch jetzt nicht wieder alles umwerfen.«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Ich sag es ihr selbst«, entgegnete Ann.
»Du wirst sie kränken.«
»Ich werde ihr bloß sagen, dass ich mich selbst um mein Zimmer kümmere.«
»Was hast du gegen die Frau? Sie hat dich immer gemocht.«
Royce wurde unruhig. »Herrgott, Ori. Es gibt doch schließlich noch so etwas wie eine Privatsphäre. Wenn sie Maxine nicht in ihrem Zimmer haben will, dann ist das ihre Sache. Und wenn wir schon mal dabei sind, in meinem Zimmer möchte ich sie auch nicht haben. Mir geht es genauso wie Ann.«
»Verzeihung! Natürlich! Das hätte ich mir denken können«, schnaubte Ori verächtlich.
Ann war über Royces Schützenhilfe offenbar überrascht, wagte jedoch nicht, etwas zu sagen. Ich hatte bereits erlebt, wie wechselhaft er seine Sympathien verteilte und kein System dabei erkennen können. Die Folge war, dass Ann oft schroff unterbrochen wurde oder wie eine Idiotin dastand.
Diesmal war Ori verstimmt und schwieg beleidigt. Ann starrte auf ihren Teller. Ich suchte krampfhaft nach einer Ausrede, um mich zurückziehen zu können.
Royce sah mich an. »Mit wem haben Sie heute gesprochen?«
Ich hasse es, bei Tisch ausgefragt zu werden. Das ist einer der Gründe, weshalb ich am liebsten allein esse. Ich erwähnte mein Gespräch mit Daisy und meinen Besuch beim Zahnarzt. Als ich ausführlicher erzählen wollte, welche Informationen ich über Jean gesammelt hatte, unterbrach er
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