Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
stellen gewagt hatte. »Mit zwölf hatte ich einen Zusammenstoß mit einigen Felsbrocken. Ich erforschte gerade eine Höhle in Kentucky, als der Tunnel einbrach. Wegen meiner Stimme im Radio erwarten die Leute etwas anderes. »Setzen Sie sich.« Er warf mir ein Lächeln zu, und ich lächelte zurück. Ich folgte ihm, während er seine Krücken beiseite stellte und sich auf den Hocker hievte. Ich holte mir einen zweiten aus der Ecke und stellte ihn dicht neben seinen. Mir fiel auf, daß Beauty sich so postierte, daß sie zwischen uns saß. »Sie vertraut nicht vielen Menschen. Ich habe sie aus dem Tierheim, aber sie muß geschlagen worden sein, als sie noch klein war.«
»Haben Sie sie immer bei sich?« wollte ich wissen.
»Ja. Sie ist eine angenehme Gesellschaft. Ich arbeite spät in der Nacht, und wenn ich aus dem Studio komme, ist die ganze Stadt menschenleer. Abgesehen von den Verrückten. Die sind immer auf Achse. Sie haben nach Lorna gefragt. Was haben Sie mit ihr zu tun?«
»Ich bin Privatdetektivin. Lornas Mutter ist heute am frühen Abend in mein Büro gekommen und hat mich gebeten, ihren Tod zu untersuchen. Sie war mit den polizeilichen Ermittlungen nicht besonders zufrieden.«
»Kunststück«, meinte er. »Haben Sie mit diesem Phillips geredet? Das war vielleicht ein Wichser.«
»Ich habe ihn gerade gesprochen. Er ist nicht mehr bei der Mordkommission, sondern bei der Sitte. Was hat er Ihnen denn getan?«
»Getan hat er überhaupt nichts. Es ist seine Art. Ich hasse Typen wie ihn. Kleine, aufgeblasene Gockel, die andere herumkommandieren. Moment mal bitte.« Er schob eine dicke Kassette in einen Schlitz und drückte einen Knopf auf dem Mischpult. Dann lehnte er sich vor und sprach mit einer Stimme, die so weich und samtig war wie Sahnetrüffel: »Gerade haben wir Phineas Newborn mit einem Klaviersolo gehört, einem Stück namens >The Midnight Sun Will Never Set<. Und ich bin Hector Moreno und bringe Ihnen hier auf Radio K-SPELL ein wenig Zauber in die Nacht. Vor uns liegen dreißig Minuten ununterbrochener Musik mit der unvergleichlichen Stimme von Johnny Hartman aus einer legendären Session mit dem John Coltrane Quartet. Die Zeitschrift Esquire nannte dies einmal die großartigste Platte, die je veröffentlicht wurde. Die Aufnahme stammt vom 7. März 1963 und ist auf Impulse erschienen. Es spielen John Coltrane, Tenorsaxophon, McCoy Tyner, Klavier, Jimmy Garrison, Baß, und Elvin Jones, Schlagzeug.« Er drückte einen Knopf, drehte die Lautstärke im Studio herunter und wandte sich wieder mir zu. »Was auch immer er über Lorna gesagt hat, Sie sollten nicht alles für bare Münze nehmen.«
»Er hat gesagt, sie hätte eine dunkle Seite gehabt, aber das war mir nicht neu. Ich habe mir noch nicht den richtigen Überblick verschafft, aber ich arbeite daran. Wie lang haben Sie sie gekannt, bevor sie starb?«
»Etwas über zwei Jahre. Direkt nachdem ich angefangen habe, diese Sendung zu moderieren. Zuvor habe ich in Seattle gewohnt, aber ich vertrug die Feuchtigkeit nicht. Über den Freund eines Freundes habe ich von diesem Job erfahren.«
»Arbeiten Sie schon immer beim Radio?«
»Medien allgemein«, antwortete er. »Rundfunk- und Fernseh-Produktion; in gewissem Rahmen Video, obwohl mich das nie besonders interessiert hat. Ich stamme ursprünglich aus Cincinnati und habe dort einen Universitätsabschluß gemacht, aber ich habe schon überall gearbeitet. Auf jeden Fall habe ich Lorna gleich kennengelernt, als ich hierher kam. Sie war die geborene Nachteule und rief immer wieder mit Musikwünschen an. Zwischen den Titeln und den Werbespots haben wir manchmal eine Stunde miteinander geplaudert. Sie fing an, im Studio vorbeizukommen. Anfangs vielleicht einmal die Woche. Gegen Ende war sie fast jede Nacht hier. Um halb drei, drei Uhr brachte sie Doughnuts und Kaffee und Knochen für Beauty, wenn sie zuvor essen war. Mitunter glaube ich, daß es eigentlich der Hund war, den sie gern hatte. Sie hatten eine Art psychischer Affinität. Lorna hat immer behauptet, sie seien in einem früheren Leben ein Liebespaar gewesen. Beauty wartet immer noch darauf, daß sie wiederkommt. Um drei Uhr geht sie zur Treppe hinaus, bleibt einfach da stehen und schaut nach oben. Dann macht sie so ein leises Geräusch in der Kehle, das einem beinahe das Herz bricht.« Er schüttelte den Kopf und verdrängte das Bild mit merkwürdiger Ungeduld.
»Wie war Lorna?«
»Kompliziert. Für mich war sie eine schöne, gequälte Seele.
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