Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Sonnenaufgang war fantastisch: das Meer leuchtend blau, der Himmel darüber orange, in eine dünne Schicht Gelb übergehend, und dahinter ein klarer blauer Himmel. Am Horizont glitzerten die Bohrinseln wie eine unregelmäßige Reihe Brillantbroschen. Das Fehlen einer Wolkendecke machte Spezialeffekte unmöglich, als die Sonne schließlich aufging, doch der Tag versprach sonnig zu werden, und das genügte mir. Als ich mit meinem Dauerlauf fertig war, ging ich zum Fitnesscenter hinüber, wo ich abwechselnd dehnte, spannte, streckte, beugte, hyperstreckte, presste, stieß, drückte, ruderte, hob und Gewichte nach oben und nach unten zog. Am Schluss fühlte ich mich prima.
Ich ging nach Hause und duschte. Um neun kam ich in Blue Jeans aus dem Haus, bereit, mich dem Tag zu stellen. Ich fuhr mein Auto in nördlicher Richtung auf die 101 und nahm die Ausfahrt, die mich in unmittelbare Nähe der Kreisbehörde neben dem Veteranenamt brachte. Ich parkte und betrat das Architekturarchiv, wo ich die Adresse des Honky-Tonk nannte und darum bat, sämtliche Zeichnungen und Baupläne einsehen zu dürfen, die sie hatten. Ich erhielt eine Reihe von Ablaufskizzen, die den Umgebungsplan, den Grundstücksplan, den Abbruchplan, die Pläne für Fundament und Rahmen, Aufrisszeichnungen und die Lage der elektrischen Leitungen enthielten. Ich brauchte nicht lange, um zu finden, was ich suchte. Ich gab die Pläne zurück und ging zum Parkplatz hinaus, wo ich eine Telefonzelle gesehen hatte.
Ich rief die Auskunft an und bat um die Nummer des Secret Service in L.A., dessen Büro allen Ernstes als Unterabteilung des Finanzministeriums geführt wurde. Neben der Nummer in Los Angeles nannte man mir auch die der Dienststelle in Perdido. Ich ließ das Gespräch von meiner Kreditkarte abbuchen und wählte die Nummer in Perdido. Das Telefon klingelte einmal.
»Secret Service«, sagte eine Frau.
Wie geheim konnte der Laden schon sein, wenn sie es so bereitwillig herausposaunte?
Ich bat darum, einen Agenten sprechen zu können, und sie legte mich auf Warteleitung. Ich starrte hinaus über den Parkplatz und lauschte dem zischenden Nachlassen und Wiederaufwallen des Verkehrs auf der Landstraße. Es war ein klarer Morgen mit Temperaturen um die zehn Grad. Ich rechnete damit, dass wir bis Nachmittag die gewohnten zweiundzwanzig Grad haben würden. Kurz darauf wurde der Apparat wieder abgenommen, und ein Herr mit ausdrucksloser Stimme meldete sich. »Hier ist Wallace Burkhoff.«
»Ich hoffe, Sie können mir helfen«, begann ich. »Ich rufe an, weil ich glaube, dass von einem Lokal in Colgate aus ein groß angelegter Kreditkartenbetrug im Gange ist.«
»Was für ein Betrug?«
»Ich glaube, ein Freund von mir — offen gestanden mein Exmann — hat einem Mann hier aus der Gegend gefälschte Papiere abgekauft. Ich glaube, der Besitzer des Lokals betreibt womöglich eine regelrechte Fabrik dafür.«
Ich erzählte ihm vom Honky-Tonk, von dem Lesegerät für die Führerscheine und meiner Vermutung, dass die Kreditkartenbelege mit den Namen auf den Führerscheinen abgeglichen wurden. Oberflächlich betrachtet klang es dünn, doch er hörte höflich zu. »Vor ein paar Tagen habe ich einen Lieferwagen auf dem Grundstück gesehen. Zehn Kisten waren ausgeladen und im Flur gestapelt worden. Auf den Kisten stand Plas-Stock. Der Besitzer hat mir erzählt, es handele sich um Plastikbecher und -besteck.«
»Nicht ganz«, wandte er ein. »Plas-Stock ist auf kommerzielle Maschinen für die Herstellung von Plastikkarten und Blankomaterial für die Versichertenkarten von Krankenversicherungen und Mitgliedsausweise von Fitnessklubs spezialisiert.«
»Mein Exmann hat drei Sätze mit falschen Papieren in seinem Besitz, einschließlich Führerscheine, Sozialversicherungskarten und eine Hand voll Kreditkarten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige der Daten von einem Stammgast des Lokals stammen, weil ich dem Mann vorgestellt worden bin und Name und ungefähres Geburtsdatum identisch waren.«
»Warum ist Ihr Exmann daran interessiert, falsche Papiere zu erwerben?«
»Er war früher bei der Kriminalpolizei, und ich glaube, er ist der Sache vor drei oder vier Monaten auf die Spur gekommen. Ich meine, ich kann es nicht beschwören, aber ich habe die Quittungen, die er von einigen Besuchen in dem Lokal aufgehoben hat, und ich habe auch die falschen Papiere, auf denen überall sein Foto angebracht ist.«
»Wäre er bereit, mit uns zu sprechen?«
»Dazu ist er momentan
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