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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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Konzertflügel, den niemand mehr benutzte. Der lange Tisch mit je drei Stühlen zu beiden Seiten, an dem er beim Essen auf der Westseite saß, Fanny auf der anderen.
    Die allertypischste Silhouette jedoch war Pater Timo selbst. Mit Armen, die hinter dem Rücken verschränkt waren, stand er am Fenster in der Dunkelheit seines Wohnzimmers im Pfarrhaus. Wie ein lauernder Kranich hob er sich deutlich von der Helligkeit des Sternenhimmels ab.
    Der Jupiter stand leuchtend wie ein selbstständiger Erdmond im Südosten, links daneben Castor und Pollux, die Zwillinge. Rechts darüber der Andromedanebel. Im Winter würde er an gleicher Stelle wieder den Orion mit dem Fernglas betrachten können, den er über alles mochte. Mitten in der Milchstraße das W-förmige Gebilde der Kassiopeia. Und weiter drüben, genau im Süden, den hellen Punkt hätten die meisten für einen neuen, unentdeckten Sternenhaufen gehalten.
    Pater Timo musste schmunzeln. Es war das angestrahlte Wieskircherl hoch über dem Blumenhof.
    Bevor es dunkel wurde, war er über den Hof in seine Kirche gegangen, um sich zu bedanken. Er hatte sich in die frisch gewienerte Bank zu Füßen seines Herrn gesetzt und ihm seinen Dank ausgesprochen. Dank für die Feuerwehr, die den gesamten Kirchenraum von Schutt und Dreck und Staub befreit hatte. Für die Heidi und die Fanny, die den Fußboden gewischt hatten, bis er glänzte und strahlte wie in einem Palast.
    Für …
    »Vergiss nicht, dem Bürgermeister zu danken«, sprach Jesus trocken. »Er hat das in die Wege geleitet. Wie du weißt.« Der letzte Satz hatte wie ein Vorwurf geklungen. Wenn der Herr auf solche Weise zu ihm sprach, dann wurde es ernst.
    Von seinem Platz am Wohnzimmerfenster aus sah Pater Timo auf den Kirchturm, wo noch immer zu jeder Sekunde ein neuer Trümmerregen niedergehen konnte. Ja, er musste jeder Aufmüpfigkeit widerstehen und sich bei Campari bedanken. Bei dieser Gelegenheit konnte er ihn auch gleich noch einmal an die Geldmittel erinnern, die nötig waren …
    Das Telefon schellte.
    Pater Timo stutzte kurz, bevor er dranging. Wer sollte einen verdammten Pfaffen mitten in der Nacht anrufen?
    Oh. Er warf einen verhuschten Blick hin zum Gekreuzigten in der Ecke.
    »Ja?«
    Zuerst vernahm er nichts. Dann ein leises Hecheln. Dann ein Stimmchen wie von einer Elfe. »Hallo?«, hörte er schließlich.
    Eindeutig ein Kind. Ein Kleinkind. Ein Kleinkind kurz vor Mitternacht. In seinen Worten beschrieb das Kind nebulös, was der Grund seines Anrufs war.
    Erst als das Zitat kam, hatte Pater Timo die Gewissheit, den Anruf einordnen zu können. »Bayern können alle Plagen, aber bloß kein Blut vertragen«, rief das Kleinkind mit letzter Kraft in den Hörer.
    Im selben Augenblick begann Odilo zu weinen.
    »Fanny, ich bin kurz weg«, rief Pater Timo zu den Gemächern seiner Schwester hinüber.
    Vergeblich. Er erhielt keine Antwort.
    »Hallo, Fanny, ich muss zu einem Notfall!«
    Die Gemächer schwiegen.
    »Hast du dich in dein Strickzeug verwickelt?«
    Worauf er sich auf seine Honda Shadow schwang. Sturzhelmlos.
    Unter dem Sternenhimmel erhellte einzig die gedämpfte Beleuchtung der Dorfstraße die finstre Nacht. Vage huschten die Spielzeughäuser, die Wiesen, die Blumenfelder an ihm vorbei. Der warme Fahrtwind zerzauste sein Haar und rüttelte am Pferdeschwanz.
    Mit einem geschickten Schlenker wich er einem Rudel weißer Ziegen aus. Er wunderte sich, wieso sie zu dieser späten Stunde frei herumliefen. Kurz vor dem Blumenkreisel tauchte Heidis Brauner mit seinen Spezln auf, dem wolligen Dicken und dem dünnen Skelett.
    Automatisch versuchte er darauf zu achten, keinen allzu großen Lärm zu machen. Ein mühsames Unterfangen bei einer Shadow mit frisiertem Auspuff. Für seine eigenen Ohren glitt er sanft dahin. Kurz nach dem Kreisel gab er noch einmal Gas für den kurzen Anstieg hinauf zum Blumenhof.
    Die ganze Zeit über war ihm Odilo nicht aus dem Kopf gegangen. Auf seine Art war der Bub zwar vorlaut und altklug, aber immer witzig. Nur vorhin, das war wie ein Zeichen am Himmel gewesen. Etwas musste mit seiner Mutter passiert sein. Fritzi, hatte er herausgehört, war gefallen und blutete. Warum hatte der Kleine gerade ihn angerufen, den Pater? Woher hatte er die Rufnummer?
    Er war gespannt.
    Dass Klein-Odilo ihm die Tür öffnete, hatte er erwartet. Dass er aber auch den fremden Journalisten im Haus antraf, war doch ein wenig überraschend.
    Er hatte diesen Herrn mit der ewigen Baseballmütze zwar zwei-

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