Kirschholz und alte Gefühle: Roman (German Edition)
Maronenverkäufer, einmal sogar Bettler und Bettlerinnen, die sich minutenlang vor einem Zeitungskiosk küssen. Sie lösen sich voneinander und sprechen mich an. Krieg, sagen sie auf Französisch, wir sind dem Krieg entkommen. Sagen sie. Bitte geben Sie uns Geld. Wir sind Flüchtlinge. Als ich in meiner ersten Sprache nachhake, stellt sich heraus, dass sie diese Sprache gar nicht sprechen. Sie treiben Handel mit dem Leid der anderen. Aber sie haben dennoch Hunger. Sie könnten einem anderen Krieg oder einer Familienhölle entkommen sein, die nie jemand bezeugen wird. Sonst müssten sie nicht betteln. Oder etwa doch? Ich gebe ihnen Geld und weiß, dass sie nicht aus dem gleichen Land wie ich kommen. Ich sage ihnen nicht, dass ich es weiß. Eine der Bettlerinnen schaut mich eine halbe Sekunde lang entsetzt an, sie weiß, dass ich weiß. Eine Lügnerin. Wie in Zeitlupe erinnere ich mich jetzt an sie. Dann hat sie sich sofort wieder unter Kontrolle. Hat wieder ihr Leidensgesicht aufgesetzt. Alles ist gut. Ihr Außengesicht ist gerettet. Sie weiß, wer sie ist, ich muss es nicht wissen. Wieder spüre ich den Druck in meiner Stirn. Sage ich denn immer die Wahrheit, frage ich mich, die Füße tun mir weh. Ich habe den Eindruck, den Lücken bald entkommen zu können, fühle aber deutlich, dass mich ihr Sog ganz und gar auf mich selbst zurückwirft. Ich laufe und laufe und laufe durch die Straßen von Paris. Sehe Hüte, Kleider, Röcke, Blusen, Ohren, Augen, Münder, Nasen, Brücken, Brücken, Brücken. Eine Stadt, die sich andere ausgesucht haben. Ich nicht, ich habe mir diese Stadt nicht ausgesucht. Aber doch, ich habe mir diese Stadt ausgesucht, sage ich mir selbst, ich habe es doch auch vor der Kommission gesagt, vor allen Professoren, die mir das Stipendium bewilligt haben. Wäre ich auch sonst tatsächlich nach Paris gekommen? Ja. Und doch weiß ich nicht, welches Leben ich gelebt hätte, wenn mir ein anderes möglich gewesen wäre, welches Leben das richtige ist und ob es noch ein anderes Leben unter dem sichtbaren Leben gibt, ob es unter den Schichten der äußeren Welt liegt, die, da sie nicht immer meine war, nie die einzige sein wird. Auf den Boulevards geht das Leben weiter wie bisher. Das Picken in meiner Stirn ist mein stetiger Begleiter. Was wäre, wenn ich gar nichts fühlte? Meine Ohnmacht ist die einzige Gewissheit, die wächst. Das Picken nimmt überhand. Ich setze mich auf eine Bank. Ich will schlafen. Wie lange sitze ich schon hier? Wie lange bin ich schon am Leben? Boulevard Saint Germain. Boulevard Saint Michel. La Coupole. Picasso. Getrude Stein. Hier ist Frieden. Marlene Dietrich. Hemingway. Roland Barthes. Claude Lévi-Strauss. Serge Gainsbourg. Maurice Blanchot, der ein Buch über Das Unzerstörbare geschrieben hat, den habe ich am liebsten. Was ist das Unzerstörbare? Was bleibt für immer? Die einen lieben, die anderen können es nicht, sie können nicht lieben. Die Leute gehen an mir vorbei, verschwinden. Passanten kommen und gehen, streiten sich wegen nichts. Kellner sind die Könige in den Cafés, sie sind unfreundlich, weil sie schlecht geschlafen haben. Andere wieder sind freundlich, weil sie in der Nacht geküsst, gestreichelt, geliebt worden sind. Die nächsten sind glücklich, weil sie küssen, streicheln, lieben durften. Die Nacht für den einen war zu kurz. Für den anderen zu lang. Alle sind aufgestanden. Café Crème und Boulevards. Schaufenster. Küsse. Falsche Flüchtlinge. Korrekte Sprachen. Verpönte Infinitive. Rollende Buchstaben. Das ist Luxus. Hier ist Frieden. Ich höre nun förmlich das Picken. In meiner Stirn wird gepickt. Scharenweise picken fremde Vögel und Stimmen und Sätze und Gedanken und Erinnerungen und Bilder und mein ganzes Leben in meiner Stirn. Ich muss hier leben. Dieser Gedanke kommt mir, setzt sich fest, will nicht mehr fort. Dieses Muss belastet mich. Dieses Muss macht mich empfänglich für Details. Sie erscheinen mir lebensnotwendig. Hiromi ist da. Hiromi ist mein Frieden, sie ist immer zu Hause, wenn ich in die Wohnung komme. Ich störe sie offenbar nie. Sie ist ruhig und freundlich und wirkt am Abend mit ihrem schmalen Körper wie Baldrian auf mich. Ihre Augen blitzen kraftvoll, und wenn es wieder um ihre Petitionen geht, redet sie auf einmal viel. Stoffe und Petitionen. Ihre Gebiete. Auf dem Nähtisch, Pythagoras und ein Buch über Pedanios Dioscurides. Sie glaubt an die ausgleichende Kraft des nach Innenblickens. Manchmal komme ich in die Wohnung
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